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Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Titel: Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Morton
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Weder der Ton noch der Gesichtsausdruck des Polizisten gaben einen Hinweis darauf, was er von ihr zu hören erwartete.
    Laurel runzelte die Stirn, bestrebt, sich an jede Einzelheit zu erinnern und sich als zuverlässige Zeugin zu erweisen. Ja, irgendwie schon, glaubte sie. Er war nicht gerannt, und er hatte auch nicht geschrien oder sich sonst wie merkwürdig benommen, aber trotzdem war er … sie schaute an die Decke, suchte nach dem richtigen Wort … er war ihr nicht geheuer gewesen. Sie sagte es gleich noch einmal, zufrieden mit ihrer Wortwahl. Der Mann war ihr nicht geheuer gewesen, und sie hatte Angst bekommen. Nein, sie konnte nicht genau sagen, warum, aber genauso hatte sie es empfunden.
    Ob es vielleicht sein könne, dass das, was später geschah, ihren ersten Eindruck getrübt hatte und sie dadurch etwas ganz Normales als bedrohlicher empfunden hatte, als es in Wirklichkeit war?
    Nein, da war sie sich ganz sicher. Der Mann hatte zweifellos irgendwie gefährlich gewirkt.
    Der jüngere Polizist notierte sich etwas in seinem Heft. Laurel atmete aus. Sie wagte es nicht, ihre Eltern anzusehen, aus Angst, sie könnte in Tränen ausbrechen.
    »Und als der Mann das Haus erreichte? Was ist dann passiert?«
    »Er ist um die Ecke gekommen, viel vorsichtiger als ein normaler Besucher – er ist regelrecht geschlichen –, und dann ist meine Mutter mit dem Kleinen aus dem Haus gekommen.«
    »Trug sie ihn auf dem Arm?«
    »Ja.«
    »Trug sie noch etwas anderes?«
    »Ja.«
    »Und was war das?«
    Laurel biss sich in die Wange, als sie sich an das Aufblitzen des Metalls erinnerte. »Sie hatte das gute Kuchenmesser in der Hand.«
    »Du hast das Messer erkannt?«
    »Wir benutzen es für besondere Gelegenheiten. Es hat eine rote Schleife am Griff.«
    Der Gesichtsausdruck des Polizisten blieb weiterhin unverändert, aber er ließ einen kurzen Moment verstreichen, bevor er seine nächste Frage stellte. »Und was ist dann passiert?«
    Darauf war Laurel vorbereitet. »Dann hat der Mann sie angegriffen.«
    Ein winziger Zweifel schlich sich ein, wie ein Sonnenstrahl, der ein Foto undeutlich macht, als Laurel beschrieb, wie der Mann auf ihren kleinen Bruder losging. Sie zögerte, betrachtete ihre Knie, um sich auf ihre Erinnerung zu konzentrieren. Dann fuhr sie fort. Der Mann hatte nach Gerry gegriffen, daran erinnerte sie sich, und zwar mit beiden Händen, als wollte er ihrer Mutter den Kleinen entreißen. Da hatte sie das Baby hinter sich auf den Boden gesetzt. Und dann hatte der Mann nach dem Messer gegriffen, hatte versucht, es ihr abzunehmen, und sie hatten miteinander gekämpft …
    »Und dann?«
    Der Kugelschreiber des jungen Mannes flog über das Papier, während er jedes Wort mitschrieb, das sie sagte. Für einen Moment hörte man nur das leise Kratzen des Schreibers auf dem Papier, und Laurel schwitzte; irgendwie war es wärmer im Zimmer geworden. Warum machte ihr Vater denn nicht ein Fenster auf?
    »Und dann?«
    Laurel schluckte. Sie hatte einen trockenen Mund. »Und dann hat meine Mutter zugestochen.«
    Stille herrschte im Zimmer. Wieder war nur das Kratzen des Stifts zu hören. Laurel sah alles klar und deutlich vor sich: Der Mann, der böse Mann mit dem finsteren Gesicht und den großen Händen, der auf ihre Mutter losging, um ihr wehzutun, der als Nächstes dem Kleinen etwas antun wollte …
    »Ist der Mann sofort gestürzt?«
    Der Stift hatte aufgehört zu kratzen. Der junge Polizist, der am Fenster stand, schaute sie über sein Notizheft hinweg an.
    »Ist der Mann sofort zu Boden gestürzt?«
    Laurel nickte zögernd. »Ich glaube ja.«
    »Du glaubst?«
    »An mehr erinnere ich mich nicht. Da bin ich wohl in Ohnmacht gefallen. Ich bin erst nach einer Weile im Baumhaus wieder zu mir gekommen.«
    »Wann war das?«
    »Eben. Dann bin ich hergekommen.«
    Der ältere Polizist atmete hörbar ein und dann wieder aus. »Fällt dir sonst noch etwas ein, das wir wissen sollten? Irgendetwas, das du gesehen oder gehört hast?« Er fuhr sich mit der Hand über den kahlen Schädel. Seine Augen waren blassblau, fast grau. »Lass dir Zeit, auch die kleinste Kleinigkeit kann von Bedeutung sein.«
    Hatte sie etwas vergessen? Hatte sie sonst noch irgendetwas gesehen oder gehört? Laurel dachte gründlich nach, bevor sie antwortete. Sie glaubte nicht. Nein, sie war sich ganz sicher, dass das alles war.
    »Wirklich nichts?«
    »Nein«, sagte sie. Ihr Vater hatte die Hände in die Hosentaschen gesteckt und sah sie mit zusammengezogenen Brauen

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