Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
Explosion, und überall wurde es hell. Alles schien sich zu verlangsamen. Dollys Gesicht wurde erleuchtet, ihre Züge waren im Schock wie versteinert. Vivien schaute nach oben. Als die Bombe durch das Dach des Hauses am Rillington Place Nr. 24 fiel und die Glühbirne in Dollys Zimmer zu tausend winzigen Scherben zer platzte, schloss Vivien die Augen und frohlockte. Endlich waren ihre Gebete erhört worden. Sie würde nicht zum Serpentine-See gehen müssen. Sie sah die funkelnden Lichter in der Dunkelheit, den Grund des Bachs, den Tunnel, der zum Mittelpunkt der Erde führte. Sie war in dem Tunnel und drang tiefer und tiefer hinein, der Schleier war zum Greifen nahe, und Pippin stand dahinter und winkte, und Vivien konnte sie alle sehen. Und sie konnten sie auch sehen, und Vivien Longmeyer lächelte. Nach unendlich langer Zeit war sie am Ziel angekommen. Sie hatte getan, was sie tun musste. Endlich würde sie nach Hause zurückkehren.
Teil 4
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Dorothy
31
London 2011
L aurel war sofort in die Campden Grove gefahren. Sie wusste selbst nicht genau, warum, nur dass sie es als absolut zwingend empfunden hatte. Vermutlich hatte sie irgendwie gehofft, die Person, die ihrer Mutter die Dankeskarte geschrieben hatte, könnte noch in dem Haus wohnen. Warum nicht? Aber als sie jetzt in der Eingangshalle der Nr. 7 stand – heute ein Apartmenthaus mit Ferienwohnungen – und den dezenten Zitronenduft eines Raumsprays einatmete, kam sie sich ziemlich albern vor. Die Frau, die in der kleinen, vollgestopften Rezeption saß, schaute sie noch einmal über ihr Telefon hinweg an und erkundigte sich, ob sie ihr helfen könne, was Laurel dankend verneinte.
Laurel war der Verzweiflung nahe. Sie war so glücklich gewesen, als ihre Mutter ihr am Abend zuvor von Henry Jenkins erzählt hatte, was für ein Mann er gewesen war. Alles hatte plötzlich einen Sinn ergeben, und Laurel war sich ganz sicher gewesen, am Ziel zu sein, dass sie endlich verstanden hatte, was an jenem Tag passiert war. Dann war ihr der Stempel auf der Briefmarke aufgefallen, und sie hatte innerlich jubiliert. Sie war überzeugt davon, dass der Stempel wichtig war – mehr noch, es hatte sich angefühlt wie etwas ganz Persönliches, als wäre sie, Laurel, die Einzige, die diesen letzten Knoten würde lösen können. Und jetzt stand sie im Foyer eines Drei-Sterne-Apartmenthauses, und es war natürlich niemand da, der während des Kriegs hier gewohnt hatte. Was hatte diese verflixte Karte zu bedeuten? Wer hatte sie ihrer Mutter geschickt? Spielte das alles überhaupt eine Rolle? Allmählich hatte Laurel das Gefühl, dass es das nicht tat.
Sie winkte der Empfangsdame zum Abschied, die, das Telefon am Ohr, zurückwinkte, dann ging sie nach draußen. Sie zündete sich eine Zigarette an und rauchte gereizt. Später würde sie Daphne vom Flughafen abholen, sie war also nicht völlig vergebens nach London gekommen. Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. Noch ein paar Stunden, die sie totschlagen musste. Es war sonnig und warm, der Himmel war blau und klar, nur durchkreuzt von ein paar weißen Kondensstreifen. Vielleicht sollte sie sich einfach irgendwo ein Sandwich besorgen, in den Park gehen und an den Serpentine-See setzen. Während sie an ihrer Zigarette zog, erinnerte sie sich an ihren letzten Besuch in der Campden Grove. An den Tag, an dem sie vor dem Haus Nr. 25 gestanden und den kleinen Jungen gesehen hatte.
Laurel betrachtete das Haus. Das Haus, das Vivien und Henry gehört hatte: der Ort, wo er seine Frau brutal misshandelt hatte, wo Vivien gelitten hatte. Nachdem Laurel Katy Ellis’ Tagebücher gelesen hatte, wusste sie seltsamerweise mehr über das Leben im Haus Nr. 25 als über das Leben im Haus gegenüber. Nachdenklich trat sie ihre Zigarette aus, hob die Kippe auf und warf sie in den Aschenbecher neben dem Eingang des Apartmenthauses. Dann fasste sie einen Entschluss.
Laurel klopfte am Haus in der Campden Grove Nr. 25 an und warte te. Die Halloween-Dekoration war aus dem Fenster verschwun den; stattdessen hingen dort jetzt bunt bemalte Ab drücke von Kinderhänden – mindestens vier verschiedene Grö ßen. Wie nett. Laurel freute sich, dass jetzt eine Familie in dem Haus wohnte. Dass hässliche Erinnerungen aus der Vergangenheit durch neue überschrieben wurden. Von drinnen waren Geräusche zu hören – es war also jemand zu Hause –, aber niemand kam an die Tür, also klopfte sie noch einmal. Sie drehte sich auf dem gefliesten Absatz um, schaute hinüber
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