Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
ein volles Tablett auf den Couchtisch und schob damit alles Mögliche an Bastelmaterial zur Seite. Dann setzte sie sich neben ihren Mann aufs Sofa. Ohne hinzusehen, gab sie einem kleinen Mädchen mit braunen Locken, das offenbar die Süßigkeiten gewittert hatte und aus dem Nichts aufgetaucht war, einen Keks.
»Mein Großvater«, erklärte Marty. »Er ist schuld, dass ich mich so für Ihre Arbeit interessiert habe. Ich bin ein Fan von Ihnen, aber er hat Sie regelrecht angebetet. Er hat kein einziges Ihrer Stücke verpasst.«
Laurel lächelte, bemüht, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr sie sich geschmeichelt fühlte. Diese Familie und das chaotische Haus gefielen ihr. »Irgendeins wird er bestimmt verpasst haben.«
»Nein, kein einziges.«
»Erzähl Laurel von seinem Fuß«, sagte Karen und legte ihrem Mann zärtlich eine Hand auf den Arm.
Marty lachte. »Einmal hat er sich den Fuß gebrochen, und er hat das Krankenhaus auf eigene Verantwortung früher als vorgesehen verlassen, um Sie in Wie es euch gefällt zu sehen. Er hat mich schon mit ins Theater genommen, als ich noch so klein war, dass ich drei Kissen unterm Hintern brauchte, um über die Lehne des Sitzes vor mir sehen zu können.«
»Er scheint einen guten Geschmack gehabt zu haben.« Laurel flirtete, und zwar nicht nur mit Marty, sondern mit ihnen allen. Gut, dass Iris nicht da war und es mitbekam.
»Allerdings«, sagte Marty lächelnd. »Ich habe ihn sehr geliebt. Er ist vor zehn Jahren gestorben, aber er fehlt mir jeden Tag.« Er schob seine Brille höher auf die Nase. »Aber genug davon. Verzeihen Sie … es ist die Überraschung, Sie hier als Gast zu haben … wir haben Sie noch nicht einmal gefragt, warum Sie hergekommen sind. Bestimmt nicht, um Geschichten von meinem Großvater zu hören.«
»Hm, das ist gar nicht so einfach zu erklären«, sagte Laurel, nahm die Teetasse entgegen, die ihr angeboten wurde, und goss einen Schluck Milch dazu. »Ich beschäftige mich seit einiger Zeit mit meiner Familiengeschichte, insbesondere mütterlicherseits, und es hat sich herausgestellt, dass meine Mutter …« – Laurel zögerte – »… einmal mit einer Frau befreundet gewesen ist, die in diesem Haus gewohnt hat.«
»Wissen Sie, wann das gewesen ist?«
»Ende der Dreißigerjahre, bis in die ersten Kriegsjahre hinein.«
Martys Braue zuckte. »Das ist ja ein Ding.«
»Wie hieß denn die Frau, mit der Ihre Mutter befreundet war?«, fragte Karen.
»Vivien«, sagte Laurel. »Vivien Jenkins.«
Marty und Karen schauten sich an. »Habe ich etwas Merkwürdiges gesagt?«, fragte Laurel.
»Nein, ganz und gar nicht …« Marty lächelte seine Hände an, während er seine Gedanken ordnete. »Aber der Name ist uns gut bekannt.«
»Wirklich?« Laurels Herz begann zu pochen. Sie waren Viviens Nachkommen, so musste es sein. Ein Kind, auf das Laurel bei ihren Nachforschungen noch nicht gestoßen war, ein Neffe …
»Es ist eine ganz besondere Geschichte, die zu einer Art Familienlegende geworden ist.«
Laurel nickte begierig, während sie einen Schluck Tee trank, und konnte es kaum erwarten, dass er weitererzählte.
»Mein Urgroßvater Bertie hat dieses Haus geerbt, wissen Sie, und zwar während des Zweiten Weltkriegs. Er war ziemlich krank und noch dazu arm, heißt es. Er hatte sein Leben lang gearbeitet, aber es herrschten schwere Zeiten – es war schließlich Krieg –, und er wohnte in einer winzigen Wohnung in der Nähe von Stepney, wo eine alte Nachbarin sich um ihn kümmerte. Dann, eines Tages, tauchte aus heiterem Himmel ein Anwalt bei ihm auf und verkündete ihm, dass er dieses Haus hier geerbt hatte.«
»Ich verstehe nicht«, sagte Laurel.
»Er hat es auch nicht verstanden«, sagte Marty. »Aber der Anwalt hat sich deutlich ausgedrückt. Eine Frau namens Vivien Jenkins, von der mein Urgroßvater noch nie gehört hatte, hatte ihn in ihrem Testament zum Alleinerben bestimmt.«
»Er kannte sie nicht?«
»Nie von ihr gehört.«
»Wie seltsam.«
»Allerdings. Anfangs wollte er gar nicht hier einziehen. Er litt an Demenz. Er mochte keine Veränderungen. Sie können sich sicher vorstellen, was das für ein Schock war … also ist er geblieben, wo er war, und das Haus hat leer gestanden, bis sein Sohn, mein Großvater, aus dem Krieg zurückgekehrt ist und den Alten davon überzeugen konnte, dass das Ganze kein Schwindel war.«
»Dann hat Ihr Großvater Vivien also gekannt?«
»Ja, aber er hat nie über sie gesprochen. Er war eigentlich
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