Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
ziemlich offenherzig, aber es gab ein paar Themen, die für ihn tabu waren. Eins davon war Vivien, das andere war der Krieg.«
»Ich glaube, das ist nichts Ungewöhnliches«, sagte Laurel. »Wenn man sich überlegt, was für grauenhafte Dinge diese Män ner erlebt haben.«
»Ja.« Sein Gesicht wurde ernst. »Aber für meinen Großvater war es mehr als das.«
»Ach ja?«
»Er wurde aus dem Gefängnis zum Kriegsdienst eingezogen.«
»Ach so.«
»Er hat nicht viel darüber erzählt, aber ich habe ein paar Nachforschungen angestellt.« Marty wirkte ein bisschen verlegen und senkte die Stimme: »Ich habe sein Strafregister gefunden und dabei entdeckt, dass er 1941 übel zugerichtet aus der Themse gefischt wurde.«
»Von wem?«
»Das weiß ich nicht genau, aber als er im Krankenhaus lag, ist die Polizei gekommen. Die waren davon überzeugt, dass er an irgendeiner Erpressungsgeschichte beteiligt war, und haben ihn zum Verhör mitgenommen. Er hat immer geschworen, dass es sich um ein Missverständnis gehandelt habe, aber die Polizisten haben ihm nicht geglaubt. In dem Polizeibericht steht, dass er einen Barscheck über eine große Summe bei sich getragen habe, als man ihn gefunden hat, und er wollte nicht verraten, woher er den hatte. Also ist er ins Gefängnis gewandert. Natürlich konnte er sich keinen Anwalt leisten, aber am Ende hatte die Polizei nicht genug Beweise, und da haben sie ihn halt an die Front geschickt. Komisch, aber er hat immer gesagt, die Polizei hätte ihm damit das Leben gerettet.«
»Das Leben gerettet? Wie denn das?«
»Keine Ahnung, das habe ich nie verstanden. Vielleicht war es ein Witz. Er hatte einen ausgeprägten Sinn für Humor, mein Großvater. Sie haben ihn 1942 nach Frankreich geschickt.«
»Und bis dahin war er nicht in der Armee gewesen?«
»Nein, auch wenn er an Kriegsschauplätzen gewesen ist – in Dünkirchen zum Beispiel – aber er war nicht mit einem Gewehr, sondern mit einer Kamera bewaffnet. Er war Kriegsfotograf. Kommen Sie, ich zeige Ihnen ein paar von seinen Fotos.«
»Mein Gott«, sagte Laurel, als sie die Schwarz-Weiß-Fotos betrachtete, die fast eine ganze Wand bedeckten. »Ihr Großvater war James Metcalfe.«
Marty lächelte stolz. »Genau der.« Er rückte ein gerahmtes Foto gerade.
»Die Bilder habe ich schon einmal gesehen. In einer Ausstellung im Victoria and Albert Museum vor ungefähr zehn Jahren.«
»Das war kurz nach seinem Tod.«
»Seine Arbeiten sind sehr eindrucksvoll. Wissen Sie, meine Mutter hatte einen Druck von einem seiner Bilder an der Wand hängen, als ich noch klein war. Das heißt, es hängt immer noch da. Sie hat immer gesagt, es würde ihr helfen, sich an ihre Fami lie zu erinnern, was mit ihnen passiert ist. Sie sind alle bei einem Bombenangriff in Coventry ums Leben gekommen.«
»Das tut mir leid«, sagte Marty. »Wie schrecklich. Das ist unvorstellbar.«
»Die Bilder Ihres Großvaters helfen, das alles zu verarbei ten.« Laurel betrachtete die Fotografien, eine nach der anderen. Sie waren wirklich außergewöhnlich: Menschen, die gerade ausgebombt worden waren, Soldaten auf dem Schlachtfeld. Ein Foto zeigte ein kleines Mädchen in Steppschuhen und einer viel zu großen Hose. »Das hier gefällt mir besonders«, sagte sie.
»Das ist meine Tante Nella«, sagte Marty lächelnd. »Na ja, wir haben sie Tante genannt, obwohl sie eigentlich gar nicht mit uns verwandt war. Sie war eine Kriegswaise. Das Foto hat mein Großvater an dem Abend gemacht, als ihre Familie umgekommen ist. Er ist immer mit ihr in Kontakt geblieben, und als er aus dem Krieg zurückkam, hat er sie bei ihrer Pflegefamilie besucht. Tante Nella und er sind bis ans Ende seines Lebens Freunde geblieben.«
»Wie rührend.«
»So war er. Immer loyal. Wissen Sie, bevor er meine Großmutter geheiratet hat, hat er eine alte Flamme aufgesucht, nur um sich zu vergewissern, dass es ihr gut ging. Natürlich hätte ihn nichts daran hindern können, meine Großmutter zu heiraten – sie haben sich sehr geliebt –, aber er hat ihr erklärt, er müsse das unbedingt tun. Die beiden hatten einander in den Kriegswirren aus den Augen verloren, und seit er aus dem Krieg zurück war, hatte er diese Frau nur einmal gesehen, und das auch nur von Weitem. Sie war mit ihrem Mann am Strand gewesen, und er hatte nicht stören wollen.«
Laurel hörte zu und nickte, und plötzlich fielen alle Puzzleteile zu einem Bild zusammen: Vivien Jenkins hatte James Met calfe ihr Haus vererbt. James
Weitere Kostenlose Bücher