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Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Titel: Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Morton
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Metcalfe, der einen alten, demenz kranken Vater hatte – das konnte doch nur Jimmy gewesen sein, oder? Jimmy, der Freund ihrer Mutter, der Mann, in den Vivien sich verliebt hatte, vor dem Katy sie gewarnt hatte aus Angst, Henry könnte ihr etwas Schlimmes antun, wenn er dahinterkam. Was bedeutete, dass ihre Mutter die Frau war, die Jimmy vor seiner Hochzeit aufgesucht hatte. Laurel wurde schwindlig, aber nicht nur, weil die Frau, über die Marty redete, ihre Mutter war. Da war noch etwas anderes, was mit ihren eigenen Erinnerungen zu tun hatte.
    »Was ist los?«, fragte Karen besorgt. »Sie sehen ja aus, als hätten Sie einen Geist gesehen.«
    »Ich … ich …«, stammelte Laurel. »Ich glaube, ich weiß, was Ihrem Großvater zugestoßen ist, Marty. Ich glaube, ich weiß, warum er so übel zugerichtet wurde. Und auch, wer es war, der ihn für tot gehalten und in die Themse geworfen hat.«
    »Wirklich?«
    Sie nickte und fragte sich, wo sie anfangen sollte. Es gab so viel zu erzählen.
    »Kommen Sie, gehen wir zurück ins Wohnzimmer«, sagte Karen. »Ich mache uns frischen Tee.« Sie schüttelte sich aufgeregt. »Ich weiß, es ist albern, aber ist es nicht ein tolles Gefühl, ein Geheimnis zu enträtseln?«
    Sie wollten gerade das Zimmer verlassen, als Laurel ein Foto entdeckte, das ihr den Atem raubte.
    »Sie ist schön, nicht wahr?«, sagte Marty lächelnd, als er ihrem Blick folgte.
    Laurel nickte wie betäubt, und sie wollte gerade sagen: »Das ist meine Mutter«, als Marty sagte: »Das ist sie. Das ist Vivien Jenkins. Die Frau, die Bertie das Haus vererbt hat.«

32
    Das Ende – Mai 1941
    V ivien ging das letzte Stück Weg zu Fuß. Der Zug war überfüllt gewesen mit Soldaten und erschöpft wirkenden Londonern – es hatte nur noch Stehplätze gegeben, aber ein freundlicher Mann hatte ihr einen Sitzplatz angeboten. Es hatte auch Vorteile, dachte sie, wenn man aussah wie jemand, den man gerade aus einem ausgebombten Haus gezogen hatte. Ihr gegenüber hatte ein kleiner Junge gesessen, einen Koffer auf dem Schoß und in den Händen ein Marmeladenglas. In dem Glas hatte sich ein kleiner roter Goldfisch befunden, und jedes Mal, wenn der Zug bremste oder anfuhr oder auf ein Nebengleis ruckelte, um das Ende eines Fliegeralarms abzuwarten, schwappte das Wasser im Glas, und der Junge hielt es hoch, um nachzusehen, ob sein Fisch keinen Schrecken abbekommen hatte. Konn ten Fische sich erschrecken? Wahrscheinlich nicht, dachte Vivien, aber bei der Vorstellung, in einem Marmeladenglas gefangen zu sein, befiel sie ein Gefühl schrecklicher Beklemmung.
    Wenn der Junge nicht mit seinem Fisch beschäftigt war, beobachtete er Vivien, beäugte mit seinen ernsten blauen Augen ihre Verletzungen und den dicken weißen Pelzmantel, der für die Jahreszeit viel zu warm war. Sie lächelte, als sich ihre Blicke begegneten, und er erwiderte flüchtig ihr Lächeln. Vivien fragte sich, wer der Junge sein mochte und warum er mitten im Krieg ganz allein mit dem Zug fuhr, aber sie wagte ihn nicht anzusprechen – sie war viel zu nervös, um mit irgendjemandem zu reden, hatte viel zu viel Angst, sich zu verraten.
    Es gab einen Bus, der alle halbe Stunde in die Stadt fuhr, doch Vivien beschloss, zu Fuß zu gehen. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass sie nur in Sicherheit war, solange sie in Bewegung blieb.
    Als ein Automobil hinter ihr seine Fahrt verlangsamte und dann neben ihr herfuhr, spannte sich jeder Muskel in ihrem Körper an. Sie fragte sich, ob sie je wieder ohne Angst leben würde. Erst wenn Henry tot war, das wusste sie, denn erst dann würde sie wirklich frei sein. Der Fahrer des Wagens trug eine Uniform, die sie nicht zuordnen konnte. Vivien stellte sich vor, wie sie auf ihn wirken musste – eine Frau im Wintermantel mitten im Frühling, das Gesicht voller blauer Flecken, einen kleinen Koffer in der Hand und allein auf der Straße unterwegs. »Guten Tag«, sagte der Mann.
    Ohne sich ihm zuzuwenden, nickte sie zum Gruß. Es war fast vierundzwanzig Stunden her, wurde ihr bewusst, seit sie das letzte Wort laut ausgesprochen hatte. Es war abergläubischer Unsinn, aber sie hatte das Gefühl, dass ihr Schicksal besiegelt wäre, sobald sie den Mund aufmachte, dass Henry sie irgendwie hören würde oder einer seiner Häscher, und dass er kommen würde, um sie zu holen.
    »Wollen Sie in die Stadt?«, erkundigte sich der Mann in dem Auto.
    Sie nickte wieder, aber sie wusste, dass sie irgendwann würde antworten müssen, und sei es nur, um

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