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Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Titel: Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Morton
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ihm zu beweisen, dass sie keine deutsche Spionin war. Das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte, war ein übereifriger Zivilhelfer, der die Invasion verhindern wollte und sie aufs Polizeirevier schleppte.
    »Ich kann Sie mitnehmen, wenn Sie wollen«, sagte der Mann. »Mein Name ist Richard Hardgreaves.«
    »Nein, danke.« Ihre Stimme war belegt vom langen Schweigen. »Ich gehe lieber zu Fuß.«
    Diesmal nickte er. Er schaute durch die Windschutzscheibe in die Richtung, in die er fuhr, dann wandte er sich wieder Vivien zu. »Besuchen Sie jemanden in der Stadt?«
    »Ich trete eine Stelle an«, sagte sie. »In der Pension ›Sea Blue‹.«
    »Ach! Bei Mrs. Nicolson. Na, dann werden wir uns ja bald wiedersehen, Miss …?«
    »Smitham«, sagte sie. »Dorothy Smitham.«
    »Miss Smitham«, sagte der Mann lächelnd. »Hübscher Name.« Dann winkte er kurz und fuhr davon.
    Vivien schaute dem Auto nach, bis es hinter dem grasbe wachsenen Hügel verschwand, dann brach sie vor Erleichterung in Tränen aus. Sie hatte laut gesprochen, und nichts Schlimmes war passiert. Ein ganzes Gespräch mit einem Fremden, ein neuer Name, und der Himmel war nicht eingestürzt, und die Erde hatte sich nicht aufgetan und sie verschluckt. Sie holte tief Luft und gönnte sich den Anflug der Hoffnung, dass vielleicht doch noch alles gut werden würde. Dass sie eine zweite Chance erhalten sollte. Die Luft roch nach Salz und Meer, und Möwen kreisten hoch oben am Himmel. Sie nahm ihren Koffer und ging weiter.
    Im Grunde war es die kurzsichtige alte Frau am Rillington Place gewesen, die sie auf die Idee gebracht hatte. Als Vivien mitten im Staub und in den Trümmern die Augen geöffnet hatte, unerklärlicherweise noch am Leben, hatte sie angefangen zu weinen. Um sie herum waren Sirenen zu hören und die Stimmen tapferer Männer und Frauen, die gekommen waren, um das Feuer zu löschen, Wunden zu verbinden und die Toten abzutransportieren. Warum, hatte sie sich gefragt, konnte sie nicht eine von den Toten sein – warum ließ das Leben sie nicht einfach gehen?
    Sie war nicht einmal schlimm verletzt. Etwas war auf sie gefallen, eine Tür, glaubte sie, aber da war eine Lücke gewesen, und sie hatte sich befreien können. Sie setzte sich im Dunkeln auf, immer noch ganz benommen. Das Zimmer war ihr nicht vertraut, aber sie fühlte etwas Pelziges unter ihrer Hand. Es war ein Mantel, und sie zog ihn von dem Haken an der Wand, an dem er gehangen hatte. In der Manteltasche fand sie eine Taschenlampe, und als sie damit im Zimmer umherleuchtete, stellte sie fest, dass Dolly tot war. Sie war von Ziegelsteinen und Putzbrocken und einer großen, metallenen Truhe erschlagen worden, die vom Dachboden heruntergestürzt war.
    Vivien wurde übel. Der Schock und die Schmerzen und die Enttäuschung darüber, dass sie versagt hatte, waren übermächtig. Doch sie rappelte sich mühsam auf. Das Dach war nicht mehr da, und sie konnte den Sternenhimmel sehen. Sie stand schwankend da, betrachtete die Sterne, fragte sich, wie lange es dauern würde, bis Henry sie fand, als die alte Frau plötzlich rief: »Miss Smitham! Da oben! Miss Smitham lebt!«
    Vivien drehte sich nach der Stimme um, verwirrt, denn sie wusste ja, dass Dolly nicht mehr lebte. Sie wollte den Irrtum richtigstellen, zeigte irgendwie in Dollys Richtung, brachte jedoch kein Wort heraus, nur ein heiseres Krächzen, und die alte Frau hörte nicht auf zu rufen, Miss Smitham sei am Leben, wobei sie die ganze Zeit auf Vivien zeigte, und in dem Moment war ihr der Irrtum der Vermieterin bewusst geworden.
    Es war eine Chance. Viviens Kopf pochte, und sie konnte kaum einen klaren Gedanken fassen, aber sie erkannte sofort, dass sich hier ihre Chance eröffnete. In dem Chaos nach dem Bombeneinschlag erschien ihr die Sache bemerkenswert simpel. In eine neue Identität, in ein neues Leben, konnte sie genauso leicht hineinschlüpfen wie in den Mantel, den sie sich im Dunkeln übergezogen hatte. Und niemand würde zu Scha den kommen. Es war niemand mehr da, dem sie schaden konnte – Jimmy war tot, für Mr. Metcalfe hatte sie getan, was sie konnte, Dolly Smitham hatte keine Angehörigen mehr, und niemand würde Vivien betrauern. Also ergriff sie die Chance. Sie zog ihren Ehering ab, bückte sich im Dunkeln und steckte ihn Dolly an den Finger. Um sie herum herrschte ein Höllenlärm, Leute riefen durcheinander, Krankenwagen kamen und fuhren wieder weg, Trümmer rollten und rutschten immer noch in der raucherfüllten Dunkelheit,

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