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Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Titel: Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Morton
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verdanke ich ihr mein Leben –, aber wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich lieber noch einen Moment hier sitzen bleiben und die Ruhe und Stille genießen, ehe mein echter Militärdienst beginnt.«
    Dorothy musste unwillkürlich lachen. Es war das erste Mal, dass sie lachte, seit sie aus London gekommen war. Viele Jahre später, als ihre Kinder (immer wieder!) hören wollten, wie sie sich ineinander verliebt hatten, würden Stephen und Dorothy Nicolson ihnen erzählen, wie sie sich eines Abends ans Ende des ramponierten Piers geschlichen hatten. Stephen hatte sein altes Grammofon mitgebracht, und sie hatten zu der Melodie »By the Light of the Silvery Moon« getanzt – und dabei aufpassen müssen, dass sie nicht in die Löcher zwischen den Planken traten. Später war Dorothy ins Wasser gefallen, als sie versucht hatte, auf dem Geländer zu balancieren (Unterbrechung für elterliche Ermahnung: »Versucht nie, auf einem Geländer zu balancieren, Kinder!«), und Stephen war, ohne sich die Schuhe auszuziehen, hinterhergesprungen, um sie aus dem Wasser zu ziehen. »So habe ich mir eure Mutter geangelt«, sagte Stephen dann, und darüber hatten die Kinder immer gelacht, weil sie sich ihre Mutter an einem Angelhaken vorstellten – und dann hatten sie am Strand gesessen, denn es war Sommer, und die Nacht war lau, und sie hatten Muscheln aus einer Papiertüte gegessen und stundenlang geredet, bis die Sonne pinkfarben am Horizont aufgegangen war. Schließlich waren sie zurück zur Pension »Sea Blue« geschlendert, ohne dass ein Wort gesprochen wurde, und da wussten sie beide, dass sie sich ineinander verliebt hatten. Es war eine der Lieblingsgeschichten der Kinder, das Bild von ihren Eltern, wie sie in nassen Sachen über den Strand gingen, ihre Mutter eine Abenteuerin, ihr Vater ein Kriegsheld – aber tief in ihrem Herzen wusste Dorothy, dass es nur teilweise der Wahrheit entsprach. Sie hatte sich schon lange vor jenem Abend in ihren Mann verliebt, nämlich an dem Tag, als sie ihm zum ersten Mal in der Küche begegnet war und er sie zum Lachen gebracht hatte.
    Hätte man sie gebeten, Stephens Qualitäten aufzuzählen, es wäre eine lange Liste geworden. Er war mutig und fürsorglich, er war lustig, er war geduldig mit seiner Mutter, obwohl sie eine Frau war, deren liebenswürdiges Geplauder nie frei von ätzender Säure war. Er hatte starke Hände, und er war sehr geschickt: Er konnte alles reparieren, und er konnte wunderbar zeichnen (wenn auch nicht so schön, wie er es sich gewünscht hätte). Er sah gut aus, und er hatte eine Art, Dorothy anzuschauen, dass ihr vor Verlangen ganz heiß wurde. Er war ein Träumer, aber keiner, der sich in seiner Fantasiewelt verlor. Er liebte Musik, und er spielte Klarinette – Jazz-Stücke, die Dorothy liebte und die seine Mutter zur Verzweiflung trieben. Manchmal, wenn Dorothy im Schneidersitz auf der Fensterbank in seinem Zimmer saß und ihm beim Spielen zuhörte, hämmerte Mrs. Nicolson von unten mit dem Besenstiel gegen die Decke, woraufhin Stephen noch lauter und noch wilder spielte und Dorothy so lachen musste, dass sie sich die Hände vor den Mund schlug. Er gab ihr Geborgenheit.
    Aber ganz oben auf ihrer Liste würde seine Charakterstärke stehen. Stephen Nicolson besaß Zivilcourage: Er beugte sich nie dem Willen seiner Freundin, und das gefiel Dorothy. Liebe, die einen Menschen dazu brachte, gegen seine Überzeugung zu handeln, so glaubte sie, barg Gefahr.
    Außerdem respektierte er ihre Geheimnisse. »Du erzählst nicht viel von deiner Vergangenheit«, hatte er eines Abends zu ihr gesagt, als sie am Strand saßen.
    »Nein.«
    Die Frage hing zwischen ihnen in der Luft, aber mehr sagte sie nicht.
    »Warum nicht?«
    Sie stieß einen Seufzer aus, doch der Abendwind trug ihn davon, ohne dass Stephen ihn hörte. Sie wusste, dass seine Mutter ihm in den Ohren lag. Sie erzählte ihm fürchterliche Lügen über ihre Vergangenheit, versuchte ihn zu überreden, sich noch Zeit zu lassen, eine junge Frau aus dem Ort zu heiraten und nicht so eine »Londoner Stadtpflanze«. Außerdem hatte Stephen seiner Mutter versichert, dass er Geheimnisse liebte, dass das Leben ziemlich langweilig wäre, wenn man alles über einen Menschen wüsste, noch bevor man die Straße überquert hatte, um ihn zu begrüßen. Dorothy antwortete: »Ich nehme an, aus demselben Grund, warum du nicht viel über den Krieg erzählst.«
    Er nahm ihre Hand und küsste sie. »Ich verstehe.«
    Eines Tages würde sie

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