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Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Titel: Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Morton
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aber Vivien hörte nur ihr eigenes Herz schlagen – nur dass es nicht vor Angst schlug, sondern vor Entschlossenheit. Dolly hielt den Brief mit dem Stellenangebot immer noch in Händen. Vivien holte tief Luft, dann zog sie Mrs. Nicolsons Schreiben aus Dollys Hand und steckte es ein. Dabei fühlte sie, dass sich in der Manteltasche ein kleines hölzernes Ding und ein Buch befanden, aber sie schaute nicht nach, um welches Buch es sich handelte.
    »Miss Smitham?« Ein Mann mit einem Helm war auf eine Leiter gestiegen, die er an den halb eingestürzten Boden gelehnt hatte, und blickte über den Rand. »Keine Sorge, Miss, wir holen Sie hier raus. Es wird alles gut.«
    Vivien schaute ihn an und hoffte inständig, dass er recht behalten würde. »Meine Freundin«, krächzte sie und richtete das Licht ihrer Taschenlampe auf die Tote auf dem Boden. »Ist sie …?«
    Der Mann sah Dollys zertrümmerten Kopf unter der Truhe, ihre Gliedmaßen, die in unnatürlichen Winkeln vom Körper abstanden. »Großer Gott …«, sagte er. »Die arme Frau ist tot. Wissen Sie, wie sie heißt? Gibt es jemanden, den wir benachrichtigen sollten?«
    Vivien nickte. »Sie heißt Vivien. Vivien Jenkins, und sie hat einen Mann, dem Sie mitteilen sollten, dass sie nicht mehr nach Hause kommt.«
    Dorothy Smitham verbrachte die Zeit bis zum Ende des Kriegs damit, Betten zu machen und in Mrs. Nicolsons Pension aufzuräumen und zu putzen. Sie übte sich in Zurückhaltung, achtete darauf, nichts zu tun, womit sie Aufmerksamkeit auf sich ziehen konnte, nahm nie eine Einladung an, tanzen zu gehen. Sie polierte und wusch und putzte, und abends, wenn sie sich schlafen legte und die Augen schloss, bemühte sie sich, nicht Henrys Augen zu sehen, die sie im Dunkeln anstarrten.
    Tagsüber war sie ständig auf der Hut. Anfangs meinte sie, ihn überall zu sehen: im großspurigen Gang eines Mannes, der über den Steg schlenderte, in den derben Gesichtszügen eines durchreisenden Fremden, in einer erregten Stimme in der Menge, die ihr eine Gänsehaut verursachte. Mit der Zeit sah sie ihn weniger häufig, und darüber war sie froh, aber sie hörte nie auf, nach ihm Ausschau zu halten, denn sie wusste, dass er sie eines Tages finden würde – es war nur eine Frage der Zeit –, und wenn es so weit war, wollte sie darauf vorbereitet sein.
    Sie verschickte nur eine einzige Postkarte. Nach einem halben Jahr in der Pension »Sea Blue« suchte sie die schönste Karte aus, die sie finden konnte – mit einem Foto von einem riesigen Passagierschiff, einem von der Sorte, mit dem die Leute von einem Ende der Welt ans andere reisten –, und darauf schrieb sie: Das Wetter ist herrlich. Alle sind wohlauf. Bitte nach Erhalt vernichten und adressierte die Karte an ihre liebe – und einzige – Freundin Katy Ellis in Yorkshire.
    Ihr Leben fand einen neuen Rhythmus. Mrs. Nicolson führte ein strenges Regiment, was Dorothy nur entgegenkam: Die militärische Strenge und Disziplin, die in der Pension herrschten, hatten etwas ausgesprochen Therapeutisches, und es befreite sie von ihren düsteren Gedanken, wenn ihr befohlen wurde, das Treppengeländer mit Politur auf Hochglanz zu bringen (»und ohne einen Tropfen zu vergeuden, Dorothy, es ist Krieg, vergessen Sie das nicht«).
    Und dann, als sie an einem Julitag 1944, etwa einen Monat nach der Landung der Alliierten in der Normandie, vom Einkaufen kam, saß ein Mann in Uniform am Küchentisch. Er war natürlich älter geworden und sah ziemlich mitgenommen aus, aber sie erkannte ihn sofort von dem Foto, das wie ein Heiligenbild auf dem Kaminsims seiner Mutter stand und ihn mit jungenhaft erwartungsvollem Blick zeigte. Dorothy hatte so oft das Glas geputzt, dass ihr seine ernsten Augen, sein kantiger Unterkiefer und das Grübchen in seinem Kinn schon vertraut waren, und sie errötete, als sie ihn da sitzen sah, weil sie sich plötzlich fühlte, als hätte sie ihn die ganze Zeit durchs Schlüsselloch beobachtet.
    »Sie müssen Stephen sein«, sagte sie.
    »Der bin ich.« Er sprang auf, um ihr die mit Einkäufen gefüllten Papiertüten abzunehmen.
    »Ich bin Dorothy Smitham. Ich arbeite hier. Weiß Ihre Mutter, dass Sie hier sind?«
    »Nein«, sagte er. »Die Tür war offen, und ich bin einfach reingekommen.«
    »Sie ist oben. Ich laufe schnell …«
    »Nein«, sagte er hastig, dann lächelte er verlegen. »Also, das ist nett gemeint, Miss Smitham, und ich möchte Ihnen keinen falschen Eindruck vermitteln. Ich liebe meine Mutter – immerhin

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