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Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Titel: Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Morton
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können.«
    Das Gespräch hatte sie beide zu Tränen gerührt, und Laurel hatte sich zwischendurch gefragt, ob das Hervorholen all der zum Teil äußerst schmerzhaften Erinnerungen nicht zu anstrengend für ihre Mutter war. Aber ob es nun die Freude über Laurels Neuigkeiten von Jimmys Familie war oder die Erleichterung darüber, endlich ihre Geheimnisse loszuwerden, Dorothy war so vital wie schon lange nicht mehr. Die Krankenschwester hatte ihnen gesagt, es würde nur von kurzer Dauer sein, sie sollten sich nicht täuschen lassen und damit rechnen, dass der Verfall ganz plötzlich kommen könne. Aber sie hatte auch gelächelt und ihnen den Rat gegeben, die Zeit mit ihrer Mutter so lange wie möglich zu genießen. Und das taten sie. Sie umsorgten sie und plauderten mit ihr, und für eine Weile herrschte wieder der alte Familientrubel, den Dorothy Nicolson immer so sehr geliebt hatte.
    Während Gerry ihre Mutter jetzt zum Sofa trug, suchte Laurel unter den Schallplatten im Regal nach dem gewünschten Album. Sie hielt einen Moment inne, als sie eine Platte von Chris Barber’s Jazzband entdeckte, und lächelte in sich hinein. Das Album hatte ihrem Vater gehört. Laurel konnte sich sogar noch an den Tag erinnern, an dem er es mitgebracht hatte. Er hatte seine Klarinette ausgepackt und im Wohnzimmer stun denlang Monty Sunshines Solo mitgespielt, bis er ganz erschöpft war. Danach hatte er noch den ganzen Abend selig vor sich hingelächelt.
    Laurel riss sich von der schönen Erinnerung los und ging weiter die Platten durch, bis sie fand, was sie suchte: »By the Light of the Silvery Moon«, mit Ray Noble and His Orchestra und Snooky Lanson. Gerry hatte ihre Mutter auf dem Sofa abgesetzt und war gerade dabei, ihr eine Wolldecke über die Beine zu legen. Wie froh sie war, dachte Laurel, ihn in diesen Tagen hier in Greenacres zu haben. Er war der Einzige, dem sie die Wahrheit über die Vergangenheit anvertraut hatte. Am Abend zuvor hatten sie bis spät in die Nacht im Baumhaus gehockt, Rotwein getrunken, einem Londoner Rockabilly-Sender gelauscht, den Gerry im Internet gefunden hatte, und herumgealbert und über Gott und die Welt geredet.
    Als sie schließlich über das Geheimnis ihrer Mutter gesprochen hatten, hatte Gerry gesagt, er sehe keinen Grund dazu, die anderen einzuweihen. »Wir waren an dem Tag dabei, Lol. Es gehört zu unserer Geschichte. Aber Rose, Daphne und Iris …« Er zuckte die Schultern und trank einen Schluck Wein. »Wahrscheinlich würde es sie nur schockieren. Und was soll das bringen?« Laurel war sich da nicht so sicher. Klar gab es Geschichten, die sich leichter erzählen ließen; ihre Schwestern würden eine ganze Menge verdauen müssen, vor allem Rose. Aber Laurel hatte in letzter Zeit viel über das Thema Geheimnisse nachgedacht, wie schwer es war, sie zu wahren, und wie sie trotz allem immer unter der Oberfläche lauerten und die geringste Unachtsamkeit ihres Hüters ausnutzten, um zu entwischen. Vielleicht würde sie einfach eine Weile abwarten und sehen, wie sich die Dinge entwickelten.
    Gerry, der sich auf die Sofalehne gesetzt hatte, lächelte Laurel an und gab ihr mit einem Kopfnicken zu verstehen, sie solle das Stück jetzt abspielen. Laurel ließ die Platte aus der Hülle gleiten, legte sie auf den Plattenteller und setzte die Nadel auf. Die einleitenden Akkorde des Klaviers erfüllten den Raum, und Laurel setzte sich ans andere Ende des Sofas, legte die Hände auf die Füße ihrer Mutter und schloss die Augen.
    Plötzlich war sie wieder neun Jahre alt. Es war ein Sommerabend im Jahr 1954. Sie trug ein kurzärmeliges Nachthemd, und das Fenster über ihrem Bett stand offen, um die kühle Nachtluft hereinzulassen. Ihr Kopf lag auf dem Kissen, ihr langes Haar war wie ein Fächer ausgebreitet, und die Füße hatte sie auf die Fensterbank gelegt. Mummy und Daddy hatten Freunde zum Essen eingeladen, und Laurel lag schon seit Stunden hier im Dunkeln und lauschte dem Auf und Ab des Gelächters und Geplauders, das von unten kam und sich mit den gemurmelten Seufzern ihrer schlafenden Schwestern mischte. Hin und wieder drang der Geruch nach Tabakrauch durch die offene Tür herein, Gläser klimperten im Esszimmer, und Laurel war erfüllt von der Gewissheit, dass die Erwachsenenwelt warm und hell war und fest stand bis ans Ende aller Zeit.
    Irgendwann hörte sie, wie Stühle gerückt wurden, dann waren Schritte im Flur zu vernehmen, und Laurel stellte sich vor, wie die Männer einander die Hände

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