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Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Titel: Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Morton
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der Abdichtung befreit, wölbte sich das winzige Foto, sodass Laurel darunter lugen konnte. Sie sah genauer hin, hob es vorsichtig mit der Finger spitze an und zog es heraus.
    Ihr Verdacht bestätigte sich: Darunter befand sich noch ein Foto, ein viel älteres, mit anderen Kindern. Hastig entfernte sie das Glas auf der anderen Seite und nahm das Foto von Iris und Rose heraus. Noch ein altes Foto. Es zeigte ebenfalls zwei Kinder. Mit pochendem Herzen betrachtete Laurel die vier fremden Kinder: ihre altmodischen Kleider, die Art, wie sie mit zusammengekniffenen Augen in die Kamera schauten, was auf Hitze und gleißendes Sonnenlicht schließen ließ, das bockige Gesicht des kleinsten Mädchens. Laurel wusste, was das für Kinder waren. Das waren die Longmeyers aus Tamborine Mountain, die Geschwister ihrer Mutter, bevor sie bei dem schrecklichen Unfall ums Leben gekommen waren, vor Viviens langer Schiffsreise nach Europa unter den Fittichen von Miss Katy Ellis.
    Laurel war so fasziniert von ihrer Entdeckung und so in die Frage vertieft, wie sie mehr über die Familie in Erfahrung bringen konnte, die sie gerade entdeckt hatte, dass sie das Auto erst bemerkte, als es schon fast den Zaun erreicht hatte. Schon den ganzen Tag kamen Leute zu Besuch, um zu kondolieren, und jeder wusste eine andere Geschichte über Dorothy zu erzählen, über die ihre Kinder lächeln mussten, bis auf Rose, für deren Tränen der Vorrat an Papiertaschentüchern kaum auszureichen schien. Aber der Mann, der gerade in dem roten Auto vorfuhr, war der Briefträger.
    Laurel ging ihm entgegen, um ihn zu begrüßen. Natürlich hatte er gehört, was passiert war, und sprach ihr sein Beileid aus. Laurel bedankte sich und hörte lächelnd zu, als er ihr eine Anekdote über Dorothys handwerkliches Geschick erzählte. »Man hätte es nicht für möglich gehalten«, sagte er, »dass so eine hübsche junge Dame einen Zaun zusammennageln könnte, aber sie wusste genau, was sie tat.« Laurel schüttelte den Kopf, um ihr Staunen zum Ausdruck zu bringen, aber in Gedanken war sie bei der Familie in Tamborine Mountain, als sie den Briefträger verabschiedete und zur Schaukel zurückging.
    Sie ging die Post durch: eine Stromrechnung, ein Handzettel, auf dem die Stadtratswahlen angekündigt wurden, und ein etwas größerer Brief. Laurel stutzte, als sie sah, dass er an sie adressiert war. Es wusste doch niemand, dass sie in Greenacres war – außer Claire, und die würde nie auf die Idee kommen, einen Brief zu schreiben, wenn ein Anruf genügte. Sie las den Absender: Martin Metcalfe, Campden Grove Nr. 25.
    Neugierig riss sie den Umschlag auf. Zum Vorschein kam eine Broschüre, ein Exemplar des kleinen Ausstellungskatalogs zur Werkschau seines Großvaters James Metcalfe im Victoria and Albert Museum vor zehn Jahren. » Ich dachte, das könnte Ihnen gefallen« , stand auf einem Zettel, der auf dem Deckel klebte. » PS : Kommen Sie uns besuchen, wenn Sie mal wieder in London sin d ?« Das würde sie bestimmt tun, dachte Laurel: Sie mochte Karen und Marty und deren Kinder, den kleinen Jungen mit dem Lego-Flugzeug und dem sehnsüchtigen Blick. Sie hatte das Gefühl, als wären sie alle auf merkwürdige Weise eine große, bunt zusammengewürfelte Familie, verbunden durch die schicksalhaften Ereignisse im Jahr 1941.
    Sie blätterte in dem Katalog und bewunderte von Neuem James Metcalfes außergewöhnliches Talent. Irgendwie war es ihm gelungen, mit seiner Kamera nicht nur Momentaufnahmen einzufangen, sondern durch die besondere Bildkomposition ganze Geschichten zu erzählen. Und es waren so wichtige Geschichten – diese Fotos waren Zeugnisse einer historischen Erfahrung, die drohte in Vergessenheit zu geraten. Sie fragte sich, ob Jimmy das damals wohl gewusst hatte, ob er, als er das Leid und die Trauer der Menschen auf Film gebannt hatte, geahnt hatte, welches unschätzbare Mahnmal seine Arbeit für zukünftige Generationen darstellen würde.
    Laurel lächelte, als sie das Foto von Nella sah, dann hielt sie den Atem an, als sie ein loses Foto entdeckte, das hinter der letzten Seite in dem Katalog steckte. Es war ein Abzug des Fotos, das sie in dem Haus in der Campden Grove gesehen hatte, auf dem ihre Mutter zu sehen war. Sie nahm es heraus und betrachtete ihr schönes Gesicht. Als sie es an seinen Platz zurücksteckte, fiel ihr Blick auf das letzte Foto des Katalogs, ein Selbstporträt von James Metcalfe, laut Bildunterschrift aufgenommen im Jahr 1954.
    Das Bild löste ein

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