Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
ihm alles erzählen, aber sie musste vor sichtig sein. Stephen war ein Mensch, der es fertigbringen würde, sofort nach London zu fahren, um Henry zur Rechenschaft zu ziehen. Und damit würde er nicht nur sich in höchste Gefahr bringen. »Du bist ein wunderbarer Mensch, Stephen Nicolson.«
Er schüttelte den Kopf, sie spürte es daran, wie seine Stirn sich bewegte, die er an ihre gelegt hatte. »Nein«, sagte er. »Ich bin ein ganz normaler Mann.«
Dorothy widersprach ihm nicht, aber sie nahm seine Hand und schmiegte ihre Wange an seine Schulter. Sie hatte die unterschiedlichsten Männer kennengelernt, gute und schlechte, und Stephen Nicolson war grundanständig. Der Beste. Er erinnerte sie an einen anderen, den sie gekannt hatte.
Natürlich dachte Dorothy auch oft an Jimmy, und ganz unwillkürlich stellte sie sich Jimmy vor, wie er mit ihren Eltern und ihren Geschwistern zusammen in dem alten Holzhaus in den Subtropen wohnte – die Longmeyers hatten ihn mit offenen Armen aufgenommen. Wenn sie es recht bedachte, hatte er sie schon immer an die Männer in ihrer Familie erinnert. Die Freundschaft mit ihm war ein Licht im Dunkel gewesen, sie hatte ihr Hoffnung gegeben, vielleicht, wenn sie die Chance ge habt hätten, einander besser kennenzulernen, hätte die Freundschaft sich zu der Art Liebe entwickelt, über die man in Büchern las, die Art Liebe, die sie bei Stephen gefunden hatte. Aber Jimmy gehörte Vivien, und Vivien war tot.
Einmal hatte sie geglaubt, ihn zu sehen. Es war nur wenige Tage nach ihrer Hochzeit gewesen, sie war mit Stephen Hand in Hand am Strand spazieren gegangen, und er hatte sie in den Nacken geküsst. Sie hatte gelacht und sich von ihm losgerissen, war ein paar Schritte gelaufen und hatte sich umgedreht und ihm etwas Neckendes zugerufen. Und da hatte sie eine Gestalt am Strand entdeckt, die sie aus einiger Entfernung beobachtete. Ihr war die Luft weggeblieben, als sie ihn erkannte, doch im selben Augenblick hatte Stephen sie gepackt und durch die Luft gewirbelt. Aber es war nur Einbildung gewesen, denn als sie sich noch einmal umgedreht hatte, war die Gestalt verschwunden.
33
Greenacres, 2011
I hre Mutter hatte sich das Lied gewünscht, und sie wollte es sich unbedingt im Wohnzimmer anhören. Laurel hatte ihr angeboten, den CD -Spieler nach oben zu bringen, aber Dorothy hatte nichts davon wissen wollen, und Laurel wusste, dass es keinen Zweck hatte, mit ihr zu diskutieren. Nicht mit ihrer Mutter, nicht an diesem Morgen, an dem sie diesen verträumten Blick in den Augen hatte. Seit zwei Tagen war sie jetzt schon so, seit Laurel aus London zurückgekehrt war und ihr erzählt hatte, was sie in dem Haus in der Campden Grove erfahren hatte.
Die lange Fahrt von London zurück nach Greenacres, mit Daphne auf dem Beifahrersitz, die ohne Punkt und Komma über ihr Lieblingsthema, nämlich sich selbst, redete, hatte Laurels Glücksgefühl nicht im Mindesten beeinträchtigen können, und zu Hause angekommen, war sie sofort nach oben zu ihrer Mutter gegangen, um mit ihr allein zu sein. Endlich hatten sie über alles gesprochen, was passiert war, über Jimmy und Dolly und Vivien, sogar über die Longmeyers in Australien. Ihre Mutter hatte Laurel von den Schuldgefühlen erzählt, die sie ihr Leben lang gequält hatten, weil sie Dolly am Abend des Bombenangriffs davon abgehalten hatte, in den Luftschutzraum zu gehen. »Wenn ich nicht gewesen wäre, wäre sie dort nicht gestorben. Sie war gerade auf dem Weg nach draußen, als ich ankam.« Laurel erinnerte ihre Mutter daran, dass sie ja extra deswegen hingegangen war, um Dolly vor Henry und seinen Häschern zu warnen, und dass sie sich weiß Gott nicht die Schuld daran geben konnte, dass die deutschen Bomben ausgerechnet an jenem Abend und ausgerechnet auf das Haus am Rillington Place gefallen waren.
Dorothy hatte Laurel gebeten, ihr Jimmys Foto zu bringen – es stellte sich heraus, dass es gar kein Druck war, sondern das Original –, eine der wenigen Erinnerungen an die Vergangenheit, die sie nicht weggeschlossen hatte. Als sie neben ihrer Mutter saß, hatte Laurel das Bild mit ganz neuen Augen betrachtet: die Morgendämmerung nach dem Bombenangriff, die Glasscherben im Vordergrund, die im Licht glitzerten, die Leute, die im Hintergrund, durch den Rauch kaum zu erkennen, aus ihrem Luftschutzraum kamen. »Es war ein Geschenk«, sagte ihre Mutter leise. »Es hat mir viel bedeutet, dass er es mir gegeben hat. Ich hätte mich nie davon trennen
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