Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
schüttelten und die Frauen einander einen Kuss auf die Wange gaben und sagten: »Was für ein schöner Abend«, und: »Gute Nacht«, und einander versprachen, sich bald wieder zu treffen. Autotüren wurden zugeschlagen, Motoren angelassen, und nachdem die Autos die mondbe schienene Einfahrt hinuntergefahren waren, kehrte wieder Stille auf Greenacres ein.
Laurel wartete auf die Schritte ihrer Eltern, die gleich die Treppe hochkommen und zu Bett gehen würden, und sie war schon fast eingeschlafen, als das Lachen ihrer Mutter durch die Fußbodendielen drang, das so erfrischend klang wie ein Glas kühles Wasser, und plötzlich war Laurel wieder hellwach. Sie setzte sich auf und lauschte. Jetzt hörte sie auch Daddy lachen, und dann ein Geräusch, als würde etwas Schweres verschoben. Eigentlich durfte Laurel so spät abends nicht mehr aufstehen, es sei denn, sie war krank oder hatte einen Albtraum gehabt, aber sie konnte jetzt nicht einfach die Augen schließen und schlafen. Irgendetwas ging da unten vor sich, und sie wollte wissen, was das war. Neugierige Katzen verbrennen sich die Tatzen, hieß es, aber kleine Mädchen kamen in der Regel glimpflicher davon.
Sie schlüpfte aus dem Bett und ging auf Zehenspitzen den Flur hinunter, wobei ihr Nachthemd ihre nackten Beine umspielte. Leise wie eine Maus schlich sie die Treppe hinunter, blieb kurz auf dem Absatz stehen, als sie die Musik hörte, die gedämpft durch die geschlossene Wohnzimmertür drang. Dann lief sie weiter, kniete sich ganz vorsichtig vor die Tür und legte eine Hand und ein Auge ans Schlüsselloch. Sie hielt den Atem an. Daddys Sessel war in eine Ecke gerückt worden, sodass die Mitte des Zimmers frei war, und Mummy und Daddy standen eng umschlungen auf dem Teppich. Daddys große Hand lag fest auf Mummys Rücken, sie hatten die Wangen aneinandergeschmiegt und bewegten sich langsam zum Rhythmus der Musik. Daddy hatte die Augen geschlossen, und als Laurel seinen Gesichtsausdruck wahrnahm, musste sie schlucken, und ihr wurde ganz heiß. Es sah beinahe aus, als hätte er Schmerzen, und gleichzeitig sah es aus wie das genaue Gegenteil. Er war ihr Daddy, und er war es auch wieder nicht. Ihn so zu sehen verun sicherte sie und machte sie ein bisschen eifersüchtig, was sie überhaupt nicht verstehen konnte.
Der Rhythmus der Musik wurde schneller, und ihre Eltern lösten sich voneinander. Jetzt tanzten sie richtig, wie in einem Film, hielten sich an den Händen und bewegten die Füße, und Mummy drehte sich unter Daddys Arm. Mummys Wangen waren gerötet, und ihre Locken wippten, und ein Träger ihres cremefarbenen Kleids war ihr von der Schulter gerutscht, und die neunjährige Laurel dachte, dass sie, selbst wenn sie hundert Jahre alt würde, niemals eine schönere Frau sehen würde.
»Lol.«
Laurel öffnete die Augen. Das Stück war zu Ende, und die Platte drehte sich stumm. Gerry stand über ihre Mutter gebeugt, die eingeschlafen war, und steichelte ihr übers Haar.
»Lol«, sagte er noch einmal, und etwas in seiner Stimme ließ sie aufhorchen.
»Was ist?«
Er betrachtete das Gesicht ihrer Mutter, und Laurel folgte seinem Blick. Und da wusste sie es. Dorothy schlief nicht. Sie war gestorben.
Laurel saß auf der Schaukel unter dem Baum und stieß sich sanft mit dem Fuß ab. Fast den ganzen Vormittag über hatten die Nicolsons mit dem Pfarrer über die Beerdigung gesprochen, und jetzt polierte Laurel das Medaillon, das ihre Mutter immer getragen hatte. Sie hatten – einstimmig – beschlossen, es mit ihr zusammen zu begraben. Sie hatte nie großen Wert auf materielle Güter gelegt, aber dieses Medaillon hatte ihr sehr viel bedeutet, und sie hatte es nie abgelegt. »Es enthält meine kostbarsten Schätze«, hatte sie immer gesagt, wenn die Rede darauf gekommen war, hatte es geöffnet und allen die Fotos ihrer Kinder gezeigt, die sich darin befanden. Als Kind war Laurel fasziniert gewesen von den winzigen Scharnieren und von dem leisen Klick, wenn der Verschluss einrastete.
Sie öffnete es und klappte es zu und öffnete es wieder. Sie betrachtete die lächelnden Gesichter der fünf Geschwister, Bilder, die sie schon hundertmal gesehen hatte. Dabei fiel ihr auf, dass eine der beiden winzigen ovalen Glasscheiben an der Seite eine Kerbe hatte. Stirnrunzelnd fuhr sie mit dem Daumen darüber. Sie blieb mit dem Daumennagel an der Kerbe hängen, und das Scheibchen bewegte sich – es saß viel lockerer, als sie erwartet hatte – und fiel ihr in den Schoß. Von
Weitere Kostenlose Bücher