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Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Titel: Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Morton
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seltsames Gefühl in ihr aus, das sie zuerst darauf zurückführte, dass Jimmy so eine wichtige Rolle im Leben ihrer Mutter gespielt hatte. Dorothy hatte ihr erzählt, wie liebenswürdig er gewesen war und wie glücklich er sie gemacht hatte in einer Zeit, als ihr Leben von Trostlosigkeit bestimmt gewesen war. Aber je länger Laurel das Foto betrachtete, umso mehr wuchs in ihr die Überzeugung, dass etwas anderes die Ur sache für dieses merkwürdige Gefühl war, etwas Stärkeres, etwas Persönlicheres.
    Und dann wusste sie es plötzlich.
    Laurel ließ sich nach hinten sinken und schaute in den Himmel. Ein ungläubiges Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Jetzt wurde ihr alles klar. Jetzt dämmerte ihr, warum der Name Vivien sie so berührt hatte, als Rose ihn im Krankenhaus zum ersten Mal ausgesprochen hatte; woher Jimmy gewusst hatte, dass er die anonyme Dankeskarte für Vivien an Dorothy Nicolson in Greenacres hatte adressieren müssen; warum sie jedes Mal ein Gefühl von Déjà-vu hatte, wenn sie die Krönungs-Gedenkbriefmarke sah.
    Großer Gott – Laurel musste laut lachen. Jetzt verstand sie sogar das Rätsel des Mannes am Bühneneingang, der ihr eine gute Beobachtungsgabe attestiert hatte. »Sie gehen nicht nur mit offenen Augen und Ohren, sondern auch mit offenem Herzen durchs Leben.« Das mysteriöse Zitat, oder was es war, das so vertraut geklungen hatte und das sie doch nicht hatte einordnen können – es stammte mitnichten aus einem Theaterstück. Deswegen hatte sie sich auch nicht erinnern können – sie hatte an der falschen Stelle ihres Gehirns danach gesucht. Das Zitat stammte aus einem Gespräch, das sie vor langer Zeit geführt und vollkommen vergessen hatte …

34
    Greenacres, 1953
    D as Beste daran, acht Jahre alt geworden zu sein, war, dass Laurel endlich gelernt hatte, richtig Rad zu schlagen. Sie hatte den ganzen Sommer über geübt, und ihr bisheriger Rekord waren dreihundertsechsundzwanzig hintereinander, vom Anfang der Einfahrt bis zu der Stelle, wo Daddys Traktor stand. Aber heute Morgen hatte sie sich ein neues Ziel gesetzt: Sie würde ausprobieren, wie viele sie brauchte, um einmal das Haus zu umrunden, und sie würde zusätzlich ihren persönlichen Geschwindigkeitsrekord aufstellen.
    Das Problem war das Seitentor. Wenn sie zu dem Tor kam (nach siebenundvierzig, manchmal achtundvierzig Radschlägen), machte sie mit dem Fuß einen Strich in den Boden an der Stelle, wo die Hühner das Gras weggepickt hatten, rannte los, um das Tor zu öffnen, und flitzte wieder zurück zu ihrer Markierung. Aber wenn sie die Arme hob, um das nächste Rad zu schlagen, war das Tor meistens schon wieder zugefallen. Sie hätte natürlich irgendetwas dagegenstellen können, um es offen zu halten, aber die naseweisen Hühner würden, ehe Laurel sich’s versah, in den Gemüsegarten ausschwärmen.
    Andererseits sah sie einfach keine andere Möglichkeit, ihr Vorhaben durchzuführen. Sie räusperte sich, so wie ihre Lehrerin Miss Plimpton es machte, wenn sie etwas Wichtiges zu verkünden hatte, und sagte: »Jetzt hört mal gut zu, ihr Früchtchen …« Sie hob drohend den Zeigefinger. »Ich mache jetzt das Tor auf, aber nur für eine Minute. Und falls ihr auf die Idee kommen solltet, euch in Daddys Gemüsegarten zu schleichen, sobald ich mich umdrehe, dann möchte ich euch daran erinnern, dass Mummy heute Nachmittag Hühnersuppe macht …«
    Mummy wäre zwar nicht im Traum eingefallen, ihr Federvieh in den Suppentopf zu tun – Hühner, die das Glück hatten, auf Greenacres das Licht der Welt zu erblicken, starben höchstens an Altersschwäche –, aber das brauchte Laurel ihnen ja nicht auf die Nase zu binden.
    Sie holte Daddys Arbeitsstiefel, die neben der Haustür standen, und stellte sie nebeneinander gegen das offene Tor. Constable, der Kater, der das Ganze von der Türschwelle aus beobachtet hatte, miaute, um seine Bedenken kundzutun, aber Laurel tat so, als würde sie ihn nicht hören. Zufrieden, dass das Tor nun nicht zufallen würde, warnte sie die Hühner noch einmal, dann schaute sie auf ihre Armbanduhr, wartete, bis der Sekundenzeiger auf die Zwölf sprang, rief: »Los!«, und begann, ihre Räder zu schlagen.
    Der Plan funktionierte perfekt. Sie schlug ein Rad nach dem anderen, ihre langen Zöpfe landeten abwechselnd im Staub und schlugen ihr auf den Rücken – durch das Hühnergehege, durch das offene Tor (hurra!), ums Haus herum und zurück zum Start. Neunundachtzig Radschläge in genau

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