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Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Titel: Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Morton
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gut.«
    Er lächelte schief. »Du bist ein gutes Mädchen, Laurel. Ich hole jetzt deine Schwestern. Was vorgefallen ist, behalten wir für uns, ja? Ich bin stolz auf dich.«
    Und sie hatten es für sich behalten. Es wurde zum großen un ausgesprochenen Ereignis in der Familiengeschichte. Die Schwes tern durften nichts davon erfahren, und Gerry war viel zu klein, um sich an irgendetwas zu erinnern – allerdings sollte sich später herausstellen, dass sie sich in diesem Punkt geirrt hatten.
    Die anderen spürten natürlich, dass irgendetwas vorgefallen war – man hatte sie kurzerhand von der Geburtstagsfeier am Bach weggeholt und ohne Erklärung vor dem nagelneuen DECCA -Fernsehgerät der Nachbarn abgesetzt. Ihre Eltern waren noch wochenlang außergewöhnlich ernst, und zwei Polizisten kamen regelmäßig vorbei, um sich mit gedämpfter Stimme hinter geschlossenen Türen mit den Erwachsenen zu unterhal ten. Aber das alles ergab einen Sinn, als ihr Vater ihnen von dem armen Landstreicher erzählte, der an Gerrys Geburtstag auf ihrer Wiese gestorben war. Eine traurige Sache, sagte er, aber solche Dinge kamen eben manchmal vor.
    Unterdessen fing Laurel an, ihre Nägel abzukauen. Die polizeili chen Ermittlungen waren innerhalb weniger Wochen abgeschlos sen: Das Alter und das Aussehen des Toten passten zu der Beschreibung des Mannes, der die Leute am Bach belästigt hatte. Die Polizei sagte, es sei nicht ungewöhnlich, dass es in einem solchen Fall irgendwann zu Gewalttätigkeit komme, und Laurels Zeugenaussage habe erwiesen, dass ihre Mutter in Notwehr gehandelt habe. Ein vereitelter Einbruchsversuch, ein glücklicher Ausgang, kein Grund, die Sache in der Presse breitzutreten. Zum Glück lebten sie in einer Zeit, in der Diskretion noch etwas galt und ein Wort unter Ehrenmännern dafür sorgen konnte, dass eine Schlagzeile auf die dritte Seite verbannt wurde. Der Vorhang fiel, die Vorstellung war beendet.
    Und dennoch. Während das Leben der anderen Familienmitglieder wieder seinen normalen Gang nahm, verharrte Lau rel in einem Zustand der Verstörung. Das Gefühl, von den ande ren getrennt zu sein, nahm dramatische Formen an. Der Vorfall selbst ging ihr immer und immer wieder durch den Kopf, und der Gedanke an die Rolle, die sie bei der polizeilichen Vernehmung gespielt hatte, die Dinge, die sie den Polizisten erzählt hatte – schlimmer noch, das, was sie ihnen nicht erzählt hatte –, versetzte sie manchmal derart in Panik, dass sie kaum noch Luft bekam. Egal wo sie sich aufhielt – im Haus oder im Garten –, sie fühlte sich wie in einem Gefängnis. Die Erinnerungen verfolgten sie überallhin; sie konnte ihnen nirgends entrinnen. Und das Schlimmste war, dass sie für das, was sie beinhalteten, keine Erklärung fand.
    Als sie bei der Central School vorsprach und angenommen wurde, ignorierte Laurel die flehentlichen Bitten ihrer Eltern, das mit der Schauspielerei doch noch wenigstens ein Jahr aufzuschieben, bis sie die Schule abgeschlossen hatte, an ihre Schwestern zu denken und an ihren kleinen Bruder, der so sehr an seiner ältesten Schwester hing. Sie hatte nur das Allernötigste gepackt und hatte sie alle verlassen. Die Richtung ihres Lebens hatte sich geändert wie eine Wetterfahne, die sich bei einem Sturm im Kreis drehte.
    Laurel trank ihr Weinglas aus und schaute einigen Krähen nach, die über die Wiese ihres Vaters flogen. Die Dämmerung war bereits weit fortgeschritten; die Welt versank allmählich in Dunkelheit. Alle Schauspieler haben Lieblingswörter, und »Dämmerung« war eines von Laurels Lieblingswörtern. Es war ein Genuss, es auszusprechen, weil sich damit das Gefühl verband, dass man langsam von Dunkelheit umfangen und wieder zum hilflosen, schutzbedürftigen Kind wurde. Und gleichzeitig bezeichnete es den Übergang von der Nacht zum Tag und enthielt damit auch die Verheißung des Morgenlichts.
    Die Abenddämmerung war die Tageszeit, die sie ganz besonders an ihre Kindheit erinnerte, an ihr Leben vor ihrem Aufbruch nach London: wie ihr Vater abends nach der Feldarbeit nach Hause kam; wie ihre Mutter den kleinen Gerry neben dem Ofen mit einem Handtuch abrubbelte; wie ihre Schwestern oben in ihrem Zimmer lachten, wenn Iris mal wieder perfekt ihre Schulleiterin parodierte (und heute war sie selbst Schulleiterin – was wohl die gerechte Strafe war); wie irgendwann die Lichter im Haus angingen und es drinnen nach Seife duftete und der große Tisch für das Abendessen gedeckt wurde. Selbst jetzt

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