Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
gut«, sagte Iris. »Ist fast keinmal runtergefallen. Das muss sie wochenlang geübt haben.«
»Oder ihre Geschichte ist wahr, und sie ist tatsächlich eine Zeit lang beim Zirkus gewesen«, meinte Rose. »Das würde ich ihr glatt zutrauen.«
Daphne seufzte zufrieden. »Wir hatten wirklich Glück, so eine Mutter zu haben, nicht wahr? Sie war so fantasievoll, als wäre sie nie ganz erwachsen geworden, nicht so wie die langweiligen alten Mütter der anderen Kinder. Ich hab mir immer mächtig was auf sie eingebildet, wenn ich mal Schulfreunde mit nach Hause gebracht habe.«
»Du? Eingebildet?«, sagte Iris mit gespieltem Erstaunen. »Das kann man sich ja bei dir überhaupt nicht …«
»Ich habe übrigens vor«, sagte Rose und wedelte mit einer Hand, um zu verhindern, dass schon wieder Missstimmung aufkam, »für die Geburtstagsfeier eine Torte zu backen. Eine Victoria-Torte, ihre Lieblings…«
»Erinnert ihr euch noch«, fiel ihr Daphne mit leuchtenden Augen ins Wort, »an dieses Messer, das mit der Schleife …«
»Mit der roten Schleife«, sagte Iris.
»… und dem Griff aus Elfenbein. Das hat sie nur an Geburtstagen benutzt.«
»Ja, sie sagte immer, es sei ein Zaubermesser, das Wünsche erfüllen kann.«
»Das habe ich tatsächlich lange geglaubt.« Mit einem affektierten Seufzer stützte Daphne das Kinn in die Hand. »Ich wüsste zu gerne, wo dieses seltsame Messer geblieben ist.«
»Es ist verschwunden«, sagte Iris. »Jetzt fällt es mir wieder ein. An irgendeinem Geburtstag war es auf einmal nicht mehr da, und als ich sie gefragt hab, hat sie gesagt, es sei verschwunden.«
»Auf dieselbe Weise, wie sich all die Buntstifte und Haarspangen irgendwann in Luft aufgelöst haben«, sagte Laurel hastig. Sie räusperte sich. »Ich verdurste. Möchte noch jemand einen Schluck Wein?«
»Wäre es nicht lustig, wenn wir es wiederfinden könnten?«, hörte sie Iris fragen, als sie die Diele durchquerte, um den Wein aus dem Kühlschrank zu holen.
»Eine fantastische Idee! Dann könnten wir damit ihren Geburtstagskuchen anschneiden …«
Laurel betrat die Küche, sodass ihr die aufgeregte Planung der Suchaktion erspart blieb. (»Weit kann es ja nicht gekommen sein!«, hatte Daphne ausgerufen.)
Sie schaltete das Licht an, und das Zimmer erwachte zum Leben wie jemand, den man aus dem Tiefschlaf weckt. Ohne das familiäre Treiben und in dem diffusen Licht, das die altersschwache Neonröhre verbreitete, wirkte die Küche trauriger, als Laurel sie in Erinnerung hatte. Die Fugen zwischen den Fliesen waren grau, und die Deckel der Vorratsgläser waren überzogen mit einer fettigen grauen Staubschicht. Vielleicht hatte ihre Mutter zum Schluss den Schmutz gar nicht mehr richtig gesehen, überlegte Laurel. Sie hätten ihr eine Putzfrau besorgen sollen. Warum war sie nicht auf die Idee gekommen? Und wo sie schon einmal dabei war, sich in Selbstvorwürfen zu ergehen, sagte sie sich, dass sie ihre Mutter wirklich häufiger hätte besuchen sollen.
Der Kühlschrank zumindest war neu; dafür hatte Laurel gesorgt. Als der alte Kühlschrank den Geist aufgegeben hatte, hatte sie von London aus telefonisch einen neuen bestellt: energiesparend und mit einem schicken Eisspender, den ihre Mutter nie benutzte.
Laurel nahm die Flasche Chablis heraus und schlug die Tür zu. Ein bisschen zu heftig vielleicht, denn ein Magnet fiel von der Tür, und ein Zettel segelte zu Boden und verschwand unter dem Kühlschrank. Laurel fluchte leise. Sie ging auf die Knie und tastete zwischen den Wollmäusen herum, bis sie den Zettel fand. Es war ein Zeitungsausschnitt aus dem Sudbury Chronicle mit einem Foto von Iris, die in einem braunen Tweedkostüm und schwarzen Strümpfen vor ihrer Schule stand, ganz die Direktorin. Laurel suchte nach einer freien Stelle an der Kühlschranktür, wo sie den Zeitungsausschnitt wieder anheften konnte. Das war leichter gesagt als getan. Der Kühlschrank der Nicolsons war schon immer mit Zetteln übersät gewesen, auch bevor jemand auf die Idee gekommen war, für eine kreative Zettelwirtschaft bunte Magnete zu verkaufen. Alles, was beachtenswert erschien, war mit Klebestreifen an die große weiße Tür gepappt worden, damit die Familie davon Kenntnis nahm: Fotos, Auszeichnungen, Postkarten und selbstverständlich auch jede Erwähnung eines Familienmitglieds in der Zeitung.
Die Erinnerung kam aus heiterem Himmel, ein Sommermorgen im Juni 1961 – einen Monat vor Gerrys Geburtstagsfeier: Wie sie alle sieben am
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