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Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Titel: Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Morton
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bemerkte Dollys Mutter, die keine Gelegenheit ausließ, ihrem Mann nach dem Mund zu reden.
    Dorothy rang sich ein schwaches Lächeln ab, dann breitete sie sorgfältig ihr Strandtuch aus. Natürlich konnten sie das Bellevue von hier aus nicht sehen. Dem Namen der Pension zum Trotz stand das Haus an einer Biegung der Little Collins Street, die in einer scharfen Kurve von der Promenade abzweigte; deshalb war es mit der »schönen Aussicht« nicht weit her – von den vorderen Fenstern blickte man auf graue Ausschnitte des Stadtzentrums und von den hinteren auf die Regenrinnen eines Doppelhauses –, aber Dolly wusste, dass es sinnlos war, ihre Eltern darauf hinzuweisen. Sie rieb ihre sonnenverbrannten Schultern mit Sonnenmilch ein, versteckte sich hinter ihrer Zeitschrift und lugte zu den wohlhabenderen, eleganteren Badegästen hinüber, die sich auf den Veranden ihrer Badehütten vergnügten.
    Besonders eine junge Frau war ihr sofort aufgefallen. Sie hatte blondes Haar, braun gebrannte Haut und hübsche Grübchen, wenn sie lachte, was sie häufig tat. Dolly konnte sich gar nicht an ihr sattsehen. Die Art, wie sie sich katzenhaft auf der Veranda bewegte, geschmeidig und selbstbewusst, mal den Arm eines Freundes, mal den einer Freundin berührte; wie sie ihr Kinn neigte und ihr kokettes Lächeln für den attraktivsten unter den jungen Männern reservierte; wie sich ihr silbernes Satinkleid an ihren Körper schmiegte, wenn eine Brise aufkam. Die Brise. Selbst die Natur schien auf ihrer Seite zu sein. Während Dolly im Familienlager der Smithams in der Sonne briet und der Schweiß dafür sorgte, dass ihr der Badeanzug am Körper klebte, flatterte dort das silberne Kleid wie eine große Verlockung im Wind.
    »Wer hat Lust auf eine Partie Cricket?«
    Dolly duckte sich tiefer hinter ihre Zeitschrift.
    »Ich, ich!«, rief Cuthbert und hüpfte von einem Fuß auf den anderen. »Ich werfe, Dad, ich werfe! Darf ich? Bitte, bitte, bitte!«
    Der Schatten ihres Vaters verschaffte ihr eine kurze Verschnaufpause von der Hitze. »Dorothy? Du schlägst doch immer gern als Erste.«
    Ihr Blick wanderte über den dargebotenen Schläger, den dicken Bauch ihres Vaters, das Stückchen Rührei, das in seinem Schnurrbart klebte. Im selben Augenblick sah sie vor ihrem geistigen Auge die schöne junge Frau in dem silbernen Kleid, die mit ihren Freunden scherzte und schäkerte – keine Eltern in Sicht.
    »Diesmal nicht, Dad, danke«, sagte sie. »Ich glaub, ich krieg Kopfschmerzen.«
    Kopfschmerzen klangen verdächtig nach »Frauenproblemen«, und Mr. Smitham presste ehrfürchtig und zugleich erschreckt die Lippen zusammen. Er nickte und trat den Rückzug an. »Gut, dann ruh dich aus und streng dich am besten nicht an …«
    »Los, komm, Dad!«, rief Cuthbert. »Bob Wyatt bezieht seine Position. Komm schon, zeig’s ihm!«
    Wenn sein Sohn ihn so anfeuerte, musste Mr. Smitham selbstverständlich handeln. Er drehte sich auf dem Absatz um und marschierte, den Schläger geschultert und mit federnden Schritten wie ein viel jüngerer, sportlicherer Mann, zum Strand hinunter. Das Spiel begann, und Dolly drückte sich noch dichter an die Mauer. Dass Arthur Smitham als junger Mann ein Cricket-Ass gewesen war, gehörte zum Familienmythos, und das Cricketspielen in den Ferien war eine unantastbare Institution.
    In gewisser Weise verabscheute Dolly sich selbst dafür, dass sie sich so aufführte – schließlich waren das wahrscheinlich ihre letzten Ferien mit der Familie –, aber es gelang ihr einfach nicht, ihre schlechte Laune abzuschütteln. Mit jedem Tag, der verging, schien sich der Graben zwischen ihr und dem Rest der Familie zu verbreitern. Nicht dass sie ihre Eltern nicht geliebt hätte, aber in letzter Zeit brachten sie sie einfach um den Verstand, selbst Cuthbert. Sie hatte schon immer das Gefühl gehabt, anders zu sein, das war nichts Neues, aber in letzter Zeit war es kaum noch zum Aushalten. Neuerdings redete ihr Vater dauernd beim Abendessen darüber, was Dolly machen solle, wenn sie im September die Schule abschloss. In der Fahrradfabrik wurde eine Sekretärinnenstelle frei, und ihr Vater verkündete stolz, nach dreißig Jahren in der Firma werde er ja wohl ein paar Fäden ziehen und dafür sorgen können, dass Dolly die Stelle bekam. Dabei grinste er und zwinkerte, als würde er Dolly einen Riesengefallen tun. In Wirklichkeit hätte sie bei der Vorstellung schreien mögen wie die verfolgte Unschuld in einem Horrorfilm. Etwas Schlimmeres

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