Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
konnte sie sich nicht vorstel len. Mehr noch, sie konnte es nicht fassen, dass Arthur Smitham, ihr eigener Vater, sie nach siebzehn Jahren dermaßen falsch einschätzte.
Am Strand schrie jemand: »Sechs!«, und als Dolly über ihre Zeitschrift hinweg in die Richtung sah, konnte sie ihren Vater beobachten, der, seinen Schläger geschultert, zwischen den behelfsmäßigen Wickets hin und her joggte. Janice Smitham, die nervös neben Dolly auf ihrer Picknickdecke saß, feuerte ihre beiden Männer zaghaft an. »Gut gemacht!«, rief sie, und: »Großartig!«, und gleich darauf: »Vorsicht!«, oder: »Nicht so schnell!« oder: »Atmen, Cuthbert, denk an dein Asthma!«, als der Junge in Richtung Wasser hinter dem Ball herrannte. Dolly betrachtete die adrette Dauerwelle ihrer Mutter, ihren züchtigen Badeanzug. Wie sorgfältig Janice Smitham darauf achtete, sich der Welt auf eine Weise zu präsentieren, die den geringstmöglichen Eindruck hinterließ. Dolly seufzte. Dass ihre Mutter so wenig Verständnis für ihre Zukunftspläne aufbrachte, ärgerte sie am allermeisten.
Als ihr klar geworden war, dass ihr Vater das mit der Arbeit in der Fahrradfirma bitterernst meinte, hatte sie gehofft, ihre Mutter würde über den Vorschlag zuerst dankbar lächeln, um ihn dann darauf hinzuweisen, dass es vielleicht noch interessantere Möglichkeiten für ihre Tochter gebe. Denn auch wenn es Dolly Spaß machte, sich vorzustellen, dass man sie bei der Geburt vertauscht hatte, glaubte sie das im Grunde ihres Herzens nicht. Niemand, der sie neben ihrer Mutter stehen sah, konnte so etwas ernsthaft glauben. Janice und Dorothy Smitham hatten das gleiche schokoladenbraune Haar, die gleichen Wangenknochen und den gleichen üppigen Busen. Und wie Dorothy erst kürzlich herausgefunden hatte, gab es noch eine viel wichtigere Gemeinsamkeit zwischen ihnen.
Sie war in der Garage auf der Suche nach ihrem Hockeyschläger gewesen, als sie die Entdeckung gemacht hatte: Ganz hinten auf dem obersten Regalbrett stand ein blaugrauer Schuhkarton. Der Karton kam ihr sofort bekannt vor, aber es dauerte ein paar Sekunden, bis ihr einfiel, warum. Sie erinnerte sich daran, wie ihre Mutter einmal im Elternschlafzimmer auf der Bettkante gesessen hatte, den blauen Karton auf dem Schoß, und mit einem unergründlichen Gesichtsausdruck darin herumgekramt hatte. Ihre Mutter hatte sich offensichtlich unbeobachtet gefühlt, und Dolly hatte sich sofort verdrückt. Aber sie hatte sich doch gefragt, was der Karton wohl enthalten mochte und warum ihre Mutter beim Anblick seines Inhalts so verträumt und gedankenverloren und irgendwie verjüngt ausgesehen hatte.
Als sie nun allein in der Garage war, hatte Dolly den Karton geöffnet und das Geheimnis gelüftet. Er war gefüllt mit Zeugen aus einem anderen Leben: mit Programmen von Chorkonzerten, blauen Siegerbändern von Gesangswettbewerben, Siegerurkunden für Janice Williams als beste Sängerin. Es gab sogar einen Zeitungsartikel mit Foto: eine lächelnde junge Frau mit verträumten Augen, mit einer sehr weiblichen Figur und einem Ausdruck im Gesicht, der verriet, dass da jemand in die Welt hinauswollte und nicht wie die anderen jungen Frauen aus ihrer Schulklasse in das normale, langweilige Leben eintreten wollte, das man für sie bereithielt.
Und dann hatte Janice es doch getan wie alle anderen. Lange betrachtete Dolly das Foto. Ihre Mutter hatte einmal ein außergewöhnliches Talent besessen – echtes Talent, das sie von anderen abhob –, aber obwohl Dolly seit siebzehn Jahren mit ihr unter einem Dach lebte, hatte sie Janice Smitham noch nie singen hören. Was in aller Welt konnte dieser jungen Frau das Singen verleidet haben, ihr, die einmal einem Reporter gesagt hatte: »Singen ist für mich das Schönste auf der Welt. Es gibt mir das Gefühl, fliegen zu können. Eines Tages möchte ich auf der Bühne für den König singen.«
Dolly glaubte, die Antwort zu kennen.
»Gut so, mein Junge«, rief ihr Vater Cuthbert quer über den Strand zu. »Kämpfen! Nicht schlappmachen!«
Arthur Smitham: zuverlässiger Buchhalter, treuer Mitarbeiter einer Fahrradfabrik; Inbegriff von Anstand und Moral; erklärter Feind von allem, was außergewöhnlich war.
Dolly seufzte, als sie sah, wie er hinter das Wicket hüpfte und mit einer Drehung ausholte, um Cuthbert den Ball zuzuwerfen. Er mochte vielleicht ihre Mutter kleingekriegt und sie dazu gebracht haben, alles zu unterdrücken, was sie zu etwas Besonderem machte, aber bei Dolly
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