Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
setzen, und so verharrte sie in der Hocke. Dann hob sie eine Hand und winkte.
Dolly wäre am liebsten gestorben. Schlimmer hätte es nicht kommen können.
Aber es kam noch schlimmer.
»Seht mal! Seht mal her!«
Alle schauten in die Richtung. Cuthbert, wie immer die Ungeduld in Person, hatte keine Lust mehr gehabt zu warten. Er hatte das Cricketspiel vergessen und war ein Stück am Wasser entlanggelaufen zu einem der allgegenwärtigen Strandesel. Einen Fuß im Steigbügel, versuchte er ungeschickt, sich in den Sattel zu schwingen. Dolly sah mit großen Augen zu – ebenso wie alle anderen.
Mit ansehen zu müssen, wie der arme Esel unter Cuthbert f ast zusammenbrach, brachte das Fass zum Überlaufen. Vielleicht hätte sie ihrem Bruder helfen sollen, aber sie konnte nicht. Diesmal nicht. Sie murmelte etwas über ihre Kopf schmerzen und zu viel Sonne, schnappte sich ihre Zeitschrift und lief in Richtung Pension, um sich in die Einsamkeit ihres kleinen Zimmers mit Blick auf die Regenrinnen zurückzuziehen.
Ein junger Mann mit etwas zu langem Haar und einem schon reichlich abgetragenen Anzug hatte hinter dem Musikpavillon gesessen und alles mitbekommen. Den Hut ins Gesicht geschoben, hatte er vor sich hin gedöst, doch dann hatte ihn der Ausruf »Vorsicht!« aus seinen Träumen gerissen. Er hatte sich die Augen gerieben und sich umgesehen, um zu ergründen, woher der Aufschrei gekommen war, und da hatte er sie am Strand erblickt, Vater und Sohn, die schon den ganzen Vormittag Cricket spielten.
Irgendein Durcheinander war entstanden, der Vater winkte ein paar jungen Leuten zu, die im seichten Wasser standen – das waren diese reichen Schnösel, die sich vorhin in ihrer Strandhütte so aufgespielt hatten. Jetzt war die Hütte leer, nur etwas Silbernes flatterte am Verandageländer. Das Kleid. Es war ihm schon vorher aufgefallen – es war ja auch schwer zu übersehen gewesen, was zweifellos beabsichtigt war. Das war jedenfalls kein Strandkleid, sondern eins, das zum Tanzen gedacht war.
»Seht mal!«, rief jemand. »Seht mal her!« Und der junge Mann hatte hingesehen. Der Junge, der eben noch Cricket gespielt hatte, machte sich jetzt mithilfe eines Esels zum Esel. Alle anderen verfolgten das Schauspiel, das sich ihnen darbot.
Aber er nicht. Er hatte etwas anderes zu tun. Das hübsche Ding mit dem herzförmigen Mund und den hinreißenden Kurven hatte sich von seiner Familie abgesetzt und sich auf den Weg in den Ort gemacht. Er stand auf, schulterte seinen Rucksack und zog sich den Hut in die Stirn. Auf so eine Gelegenheit hatte er gewartet, und er würde sie sich nicht entgehen lassen.
8
D olly sah ihn nicht gleich. Sie war viel zu sehr damit beschäftigt, die Tränen der Demütigung und Verzweiflung wegzublinzeln, als sie den Strand entlang in Richtung Promenade stapfte. Alles verschwamm zu einem wütenden Nebel aus Sand und Möwen und gehässig lächelnden Gesichtern. Eigentlich wusste sie, dass sie nicht über sie lachten – aber das spielte keine Rolle. Sie empfand ihre Ausgelassenheit als persönlichen Affront, und das machte alles noch hundertmal schlimmer. Dolly konnte nicht in dieser Fahrradfabrik arbeiten. Unmöglich. Eine jüngere Version ihres Vaters heiraten und dann ganz allmählich so werden wie ihre Mutter? Niemals. Für die beiden mochte das ja in Ordnung sein, sie waren mit ihrem Schicksal zufrieden, aber Dolly wollte mehr vom Leben … Sie wusste nur noch nicht, was genau und wo sie es finden sollte.
Plötzlich blieb sie stehen. Eine Windbö, stärker als die vorherigen, wählte just den Moment, als Dolly an den Strandhütten vorbeiging, um das Satinkleid vom Geländer zu klauben und durch die Luft zu wirbeln. Es landete direkt vor ihren Füßen wie flüssiges Silber. Sie sog verblüfft die Luft ein. Die blonde Frau hatte ganz offensichtlich vergessen, es mit Klammern zu befestigen. Aber wie konnte jemand mit so einem kostbaren Kleidungsstück so achtlos umgehen? Dolly schüttelte den Kopf. Eine Frau, die ihre Sachen so wenig wertschätzte, hatte es nicht verdient, sie zu besitzen. Das Kleid wäre einer Prinzessin würdig – oder einer amerikanischen Filmschauspielerin, einem Mannequin in einer Modezeitschrift, einer reichen Erbin im Urlaub an der französischen Riviera –, und wenn Dolly nicht ganz zufällig im rechten Moment vorbeigekommen wäre, hätte es womöglich seinen Flug über die Dünen fortgesetzt und wäre für immer verloren gegangen.
Ein erneuter Windstoß trieb das Kleid
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