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Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Titel: Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Morton
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weiter den Strand hin unter, bis es hinter den Strandhütten verschwand. Ohne zu zögern lief Dolly hinterher: Die junge Frau war unachtsam gewesen, aber Dolly würde nicht zulassen, dass das erlesene Stück zu Schaden kam.
    Sie konnte sich vorstellen, wie dankbar die Frau sein würde, wenn sie ihr das Kleid brachte. Dolly würde ihr erklären, was passiert war – natürlich leichthin, um ihr nicht nachträglich noch einen Schrecken einzujagen –, und dann würden sie beide lachen, weil es zum Glück noch einmal gut gegangen war, und die junge Frau würde Dolly ein Glas Limonade anbieten, richtige Limonade, nicht das wässrige Zeug, das Mrs. Jennings ihnen im Bellevue vorsetzte. Sie würden sich unterhalten und feststellen, dass sie viele Gemeinsamkeiten hatten, und wenn die Sonne unterging, würde Dolly erklären, sie müsse jetzt wirklich gehen, und die junge Frau würde erst enttäuscht dreinblicken, dann innehalten und ihr lächelnd eine Hand auf den Arm legen. »Wollen Sie nicht morgen früh wieder herkommen?«, würde sie fragen. »Wir wollen am Strand ein bisschen Tennis spielen, es wird bestimmt ein Mordsspaß – bitte, sagen Sie Ja!«
    Auf der Jagd nach dem silbernen Kleid umrundete Dolly die Ecke einer Strandhütte und sah mit Entsetzen, dass das Kleid an jemandes Füßen hängen geblieben war. Es war ein Mann mit Hut, der sich gerade bückte, um das Kleid aufzuheben, und als seine Finger den kostbaren Satin berührten und den Sand davon abschüttelten, löste sich Dollys Tagtraum in Wohlgefallen auf.
    Dolly hätte dem Mann mit Hut den Hals umdrehen können. Ihr Herz raste, ihre Haut kribbelte, und ihr Blick trübte sich. Sie schaute zum Strand hinüber: Ihr Vater schritt mit versteinerter Miene auf den verdatterten Cuthbert zu, ihre Mutter hockte immer noch in dieser unbequemen, flehenden Haltung auf der Picknickdecke, während die junge blonde Frau und ihre Freunde sich vor Lachen auf die Schenkel schlugen und auf die lächerliche Szene zeigten.
    Plötzlich stieß der Esel einen erbärmlichen Schrei aus, der so ganz und gar Dollys Gefühle zum Ausdruck brachte, dass sie, ehe sie wusste, was in sie gefahren war, den Mann mit Hut anfuhr: »He, Sie da!« Er war im Begriff, das Kleid der blonden Frau zu stehlen, und das musste Dolly verhindern. »Ja, Sie. Was machen Sie da?«
    Der Mann blickte überrascht auf, und als Dolly die edlen, scharf geschnittenen Gesichtszüge unter der Hutkrempe erblickte, war sie einen Moment lang verunsichert. Wie angewurzelt stand sie mit klopfendem Herzen da und überlegte, was sie tun sollte. Doch als die Lippen des Mannes sich zu einem anzüglichen Grinsen verzogen, war ihre Unsicherheit wie weggeblasen.
    »Haben Sie nicht gehört?«, rief Dolly leichtsinnig und auf seltsame Weise erregt. »Ich habe Sie gefragt, was Sie da machen? Das Kleid gehört Ihnen nicht.«
    Der junge Mann öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber im selben Augenblick erschien ein Polizist, der behäbig seine Runde über den Strand machte.
    Constable Basil Suckling war den ganzen Vormittag auf der Promenade auf und ab gegangen und hatte seinen Strandabschnitt streng überwacht. Er hatte die dunkelhaarige junge Frau sofort bemerkt, als sie angekommen war, und sie seitdem im Auge behalten. Nur einmal, als diese verflixte Sache mit dem Esel passierte, hatte er sich abgewandt, und als er sich wieder umgedreht hatte, war die junge Frau verschwunden. Constable Suckling hatte geschlagene fünf Minuten gebraucht, um sie wiederzufinden – ausgerechnet hinter den Strandhütten, verwickelt in etwas, das verdächtig nach einer Meinungsverschiedenheit aussah. Und ihr Gegenüber war niemand anderer als der junge Flegel, der hier schon den ganzen Vormittag mit seinem tief in die Stirn gezogenen Hut herumlungerte.
    Die Hand am Schlagstock, stapfte Constable Suckling quer über den Strand. Der Sand erschwerte sein Fortkommen und ließ ihn plumper erscheinen, als ihm lieb war, aber er tat sein Bestes. Er hörte sie gerade sagen: »Das Kleid gehört Ihnen nicht!«
    »Alles in Ordnung?«, fragte der Constable jetzt und zog den Bauch ein. Aus der Nähe war sie noch hübscher, als er erwartet hatte. Anmutig geschwungene Lippen, pfirsichglatte, weiche Haut – das erkannte er auf den ersten Blick. Seidige Locken, die ein herzförmiges Gesicht einrahmten. »Belästigt Sie der Kerl, Miss?«
    »Nein, nein, Sir, ganz und gar nicht.«
    Constable Suckling entging nicht, dass sie errötete. Wahrscheinlich begegnete sie nicht

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