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Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Titel: Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Morton
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Jimmy!«
    »Ich musste dich einfach sehen.«
    »Was hättest du denn gemacht, wenn ich bei meiner Familie am Strand geblieben wäre? Wenn ich nicht allein weggegangen wäre?«
    »Ich hätte dich immerhin gesehen, nicht?«
    Dolly schüttelte den Kopf, ohne sich anmerken zu lassen, wie geschmeichelt sie sich fühlte. »Mein Vater bringt dich um, wenn er es rausfindet.«
    »Ich glaube, mit dem kann ich’s aufnehmen.«
    Dolly lachte; er brachte sie immer zum Lachen. Das war etwas, was sie ganz besonders an ihm mochte. »Komm«, sagte sie. »Hier gibt’s einen Weg, der in die Felder führt. Da sieht uns niemand.«
    »Dir ist hoffentlich klar, dass du mich hättest ins Gefängnis bringen können.«
    »Ach, red keinen Unsinn, Jimmy.«
    »Du hast den Blick von diesem Polizisten nicht gesehen – der hätte mich am liebsten eingesperrt und den Schlüssel weggeworfen. Und wie der Kerl dich angestarrt hat …« Jimmy betrachtete sie, aber sie wich seinem Blick aus. Sie lagen im hohen, weichen Gras, und sie schaute in den Himmel, während sie ganz leise eine Tanzweise vor sich hin summte und mit Daumen und Zeigefinger Rauten bildete. Jimmy betrachtete ihr Profil, die sanft geschwungene Stirn, das Grübchen zwischen den Brauen, die gerade Nase, ihre vollen Lippen. Gott, war sie schön. Er begehrte sie so sehr, dass es ihn alle Selbstbeherrschung kostete, sich nicht auf sie zu stürzen, ihre Arme hinter dem Kopf festzuhalten und sie wie wild zu küssen.
    Aber so etwas tat er nicht. Jimmy wusste, was sich gehörte, auch wenn es ihn fast um den Verstand brachte. Sie war siebzehn, noch ein Schulmädchen, und er neunzehn, ein erwachsener Mann. Zwei Jahre Altersunterschied waren vielleicht nicht viel, aber sie und er stammten aus verschiedenen Welten. Sie wohnte in einem adretten, kleinen Haus mit ihrer adretten, kleinen Familie. Er hatte mit dreizehn die Schule verlassen, um sich um seinen kranken Vater kümmern zu können, und jeden noch so miesen Job angenommen, um über die Runden zu kommen. Er hatte für fünf Shilling die Woche als Einseifer bei einem Barbier gearbeitet, für sieben Shilling in der Bäckerei ausgeholfen, für wenig mehr auf Baustellen geschuftet und jeden Abend in der Fleischerei die knorpeligen Abfälle abgeholt, damit er seinem Vater ein Abendessen auf den Tisch stellen konnte. Sie kamen zurecht, konnten nicht klagen. Für seine raren Mußestunden hatte er seine Fotografien, mit denen er sich beschäftigte, aber jetzt, aus Gründen, die Jimmy nicht recht verstand und die er, aus Angst, alles zu verderben, lieber nicht erforschen wollte, hatte er auch noch Dolly. Mit ihr war die Welt wie verwandelt, und er würde den Teufel tun, dieses Glück zu gefährden, indem er überstürzt handelte.
    Aber es fiel ihm schwer. Als er sie zum ersten Mal gesehen hatte, wie sie mit ihren Freundinnen im Café an der Straßenecke saß, hatte er sich sofort in sie verliebt. Er hatte frische Ware für den Lebensmittelladen geliefert, und als ihre Blicke sich trafen, hatte sie ihn angelächelt, als wären sie alte Freunde. Dann hatte sie gelacht und mit hochrotem Gesicht in ihre Teetasse geschaut, und da hatte er gewusst, dass er nie wieder etwas Schöneres sehen würde, selbst wenn er hundert Jahre alt würde. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen. Ihr Lachen, das ihn an das Glück seiner Kindheit erinnerte, ihr Duft nach warmem Zucker und Babyöl, ihre wohlgeformten Brüste unter ihrem leichten Baumwollkleid …
    Jimmy wandte sich ab und konzentrierte sich auf eine lärmende Möwe, die über sie hinweg in Richtung Meer flog.
    Der Horizont war makellos blau, eine leichte Brise wehte, und überall duftete es nach Sommer. Er stieß einen Seufzer aus, und damit verrauchte auch der restliche Ärger – über die Sache mit dem silbernen Kleid, die Sache mit dem Polizisten, darüber, dass sie es hatte aussehen lassen, als stelle er eine Gefahr für sie dar. Es brachte nichts. Der Tag war zu schön, um sich zu streiten, und eigentlich war ja nichts Schlimmes passiert. Das tat es nie. Dollys Hang, aus allem ein Theaterstück zu machen, irritierte ihn, er verstand nicht, was sie dazu trieb, und es gefiel ihm auch nicht besonders, aber da es sie offensichtlich glücklich machte, spielte er ihr zuliebe mit.
    Wie um Dolly zu beweisen, dass die Geschichte für ihn erledigt war, setzte er sich auf und nahm seine treue Brownie-Kamera aus dem Rucksack.
    »Wie wär’s mit einem Foto?«, fragte er, während er den Film auf die Spule wickelte.

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