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Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Titel: Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Morton
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jeden Tag einem Mann in Uniform. Sie war in der Tat äußerst charmant.
    »Dieser Gentleman wollte mir nur etwas zurückgeben.«
    »Ach, tatsächlich?« Der Constable sah den jungen Mann stirnrunzelnd an. Registrierte den anmaßenden Gesichtsausdruck, die lässige Haltung, die hohen Wangenknochen und die arroganten schwarzen Augen. Die Augen wiesen ihn eindeutig als Fremden aus, er hatte etwas Irisches an sich, und die Augen des Constable wurden schmal. Der junge Mann verlagerte sein Gewicht und ließ einen leisen Seufzer vernehmen, dessen wehleidiger Beigeschmack den Constable auf die Palme brachte. »Tatsächlich?«, wiederholte er, diesmal etwas lauter.
    Immer noch kam keine Antwort, und Constable Suckling umklammerte seinen Schlagstock etwas fester. Das Ding war sein bester Freund, dachte er manchmal, auf jeden Fall sein ergebenster. Er verspürte bereits ein erregendes Kribbeln in den Fingern. Daher war es fast eine Enttäuschung, als der junge Mann eingeschüchtert nickte.
    »Also«, sagte der Constable, »machen Sie schon. Geben Sie der jungen Dame ihr Kleid zurück.«
    »Vielen Dank, Constable«, sagte diese. »Sehr freundlich von Ihnen.« Und als sie lächelte, rührte sich etwas in der Hose des Constable, was ihm durchaus nicht unangenehm war. »Der Wind hat es weggetragen …«
    Constable Suckling räusperte sich und setzte sein allerbestes Polizistengesicht auf. »In Ordnung, Miss«, sagte er. »Dann wollen wir mal dafür sorgen, dass Sie gut nach Hause kommen, nicht wahr? Wo Sie vor Wind und vor Gefahr geschützt sind.«
    Vor dem Bellevue gelang es Dolly, sich der Fürsorglichkeit des pflichteifrigen Constable zu entziehen. Einen Moment lang hatte sie das Gefühl gehabt, in eine brenzlige Situation geraten zu sein – er hatte vorgeschlagen, sie in die Pension zu begleiten und ihr eine Tasse Tee zu bestellen, bis sich ihre »Nerven beruhigt« hätten –, aber es war Dolly geglückt, ihn davon zu überzeugen, dass solch niedere Dienste eines Polizisten nicht würdig waren und er doch lieber wieder auf seinen Posten zurückkehren sollte. »Es gibt ganz bestimmt viele Leute hier, die Ihre Hilfe dringender benötigen, Constable.«
    Sie bedankte sich überschwänglich – beim Abschied hielt er ihre Hand länger als nötig fest –, dann öffnete sie demonstrativ die Tür und betrat die Pension. Bevor sie die Tür hinter sich schloss, beobachtete sie durch einen winzigen Spalt, wie er zurück zur Promenade stolzierte. Erst als er nur noch als winziger Punkt zu erkennen war, lief sie in ihr Zimmer, verstaute das Kleid unter ihrem Kopfkissen, schlüpfte wieder aus dem Haus und ging denselben Weg zurück, den sie gekommen waren.
    Der junge Mann stand im Portal einer der vornehmsten Pensionen lässig an eine der Säulen gelehnt. Offenbar hatte er auf sie gewartet. Dolly würdigte ihn keines Blickes, als sie hoch erhobenen Hauptes an ihm vorbeiging. Er folgte ihr die Straße entlang – sie spürte es genau – in eine schmale Gasse, die kurvenreich vom Strand fortführte. Dolly spürte, wie ihr Herz immer schneller schlug, und als das Meeresrauschen, ge dämpft zwischen den kühlen Steinmauern, immer leiser wurde, glaubte sie es sogar pochen zu hören. Sie ging schneller. Ihre Leinenschuhe litten auf dem Asphalt, sie geriet allmählich außer Atem, aber sie blieb nicht stehen, und sie drehte sich auch nicht um. Es gab eine Stelle ganz in der Nähe, dunkel und eng, wo sie sich als kleines Mädchen einmal versteckt hatte, während ihre Eltern nach ihr gerufen und das Schlimmste befürchtet hatten.
    Dolly blieb stehen, als sie die Stelle erreichte, sah sich aber nicht um. Reglos verharrte sie und lauschte, wartete, bis er direkt hinter ihr stand, bis sie seinen Atem im Nacken spürte und seine Nähe ihr die Haut wärmte.
    Sie sog die Luft ein, als er ihren Arm nahm. Sie ließ es geschehen, dass er sie langsam umdrehte, bis sie sich gegenüberstanden, und sie ließ es ebenso zu, als er ihren Arm hob und die Innenseite ihres Handgelenks an seine Lippen führte und einen Kuss darauf hauchte, der sie erschaudern ließ.
    »Was machst du hier?«, flüsterte sie.
    Seine Lippen berührten noch immer ihre Haut. »Du hast mir gefehlt.«
    »Es waren doch nur drei Tage.«
    Er zuckte die Schultern, und die dunkle Locke, die sich nie bändigen ließ, fiel ihm in die Stirn.
    »Bist du mit dem Zug gekommen?«
    Er nickte.
    »Nur für heute?«
    Wieder ein Nicken und ein flüchtiges Lächeln.
    »Aber es ist doch so eine lange Fahrt,

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