Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
Eingezwängt zwischen der Nummer 24 und der Nummer 26, wo es hingehörte. Ein weißes Haus im viktorianischen Stil, ähnlich wie die Häuser in der Nachbarschaft, mit einem schwarzen, schmiedeeisernen Balkongitter im ersten Stock und einer Gaube im schiefergedeckten Dach. Auf dem farbig gepflasterten Weg, der zur Haustür führte, stand ein Kinderwagen von der Sorte, die aussah wie ein Mondfahrzeug, und im Fenster im Erdgeschoss hing eine Girlande aus Halloween-Kürbisgesichtern, die ein Kind gemalt hatte. Neben der Tür befand sich kein Hinweisschild oder so etwas; nur die Hausnummer. Offenbar war niemand auf die Idee gekommen, das Haus Campden Grove 25, in dem Henry Ronald Jenkins gewohnt hatte, unter Denkmalschutz zu stellen. Laurel fragte sich, ob die derzeitigen Bewohner wussten, dass das Haus einmal einem berühmten Schriftsteller gehört hatte. Wahrscheinlich nicht. Warum auch? Viele Londoner wohnten in Häusern, in denen einmal irgendeine berühmte Persönlichkeit gelebt hatte, und Henry Jenkins’ Ruhm war von kurzer Dauer gewesen.
Aber Laurel hatte ihn im Internet gefunden, denn hier, im weltweiten Netz, gab es kein Vergessen: Henry Jenkins war eins von Millionen Gespenstern, die darin umhergeisterten, bis man die richtige Buchstabenkombination eingab und sie vorübergehend zum Leben erweckte. In Greenacres hatte Laurel auf ihrem neuen Smartphone den zaghaften Versuch unternommen, im Internet zu surfen, aber bevor sie endlich kapiert hatte, wo man die Suchbegriffe eingeben musste, war die Batterie leer gewesen. Sich Iris’ Laptop für solche klammheimlichen Aktionen auszuleihen war nicht infrage gekommen, und so hatte sie sich die verbliebenen Stunden in Suffolk in Geduld geübt und lieber Rose geholfen, den Schimmel aus den Fliesenfugen im Badezimmer zu kratzen.
Wie vereinbart hatte man ihr am Freitag einen Wagen geschickt, und sie hatte auf der Fahrt mit Mark, dem Fahrer, über den Verkehr und die kommende Theatersaison geplaudert und über die Frage, wie wahrscheinlich es war, dass die Straßenbaustellen bis zu den Olympischen Spielen verschwunden sein würden. Sicher in London angekommen, hatte Laurel noch brav gewinkt, bis der Wagen um die Ecke gebogen war, dann war sie ganz ruhig mit ihrem Koffer die Treppe hochgestiegen und hatte ohne zu zittern ihre Wohnungstür aufgeschlossen. Sie hatte die Tür leise hinter sich zugemacht, und dann, erst dann, im Schutz ihres eigenen Wohnzimmers, hatte sie die Mas kerade aufgegeben. Ohne sich die Zeit zu nehmen, das Licht einzuschalten, hatte sie ihren Laptop hochgefahren und den Namen bei Google eingegeben. In den Sekunden, die es dauerte, bis der Name auftauchte, war Laurel wieder zur Nagelkauerin geworden.
Der Wikipedia -Eintrag über Henry Jenkins war nicht sehr ausführlich gewesen: Er brachte die wichtigsten Lebensdaten (1901 in London geboren; 1938 Heirat in Oxford; letzte Adresse: Campden Grove 25, London; gestorben 1961 in Suffolk) sowie eine Werkliste. Seine Romane waren nur noch antiquarisch erhältlich (Laurel bestellte sich zwei); und sein Name tauchte auf so unterschiedlichen Seiten auf wie »Verein ehemaliger Schüler der Nordstrom School« und »Stranger than Fiction: Mysteriöse Todesfälle in der Literatur«. Es gab auch ein paar Hinweise zum Stil seiner Prosa: autobiografisch gefärbte Romane; eine Vorliebe für trostlose Schauplätze und Antihelden aus dem Arbeitermilieu; Durchbruch 1939 mit einer Liebesgeschichte. Zu seiner eigentlichen Biografie wurde vermerkt, dass er angeblich während des Kriegs für das Informationsministerium gearbeitet hatte, und natürlich, dass er schließlich als der »Stalker von Suffolk« entlarvt worden war. Laurel las die Seite Zeile für Zeile, Wort für Wort, und erwartete fast panisch, jeden Moment auf einen vertrauten Namen oder eine vertraute Adresse zu stoßen.
Doch nichts dergleichen war geschehen. Nirgendwo wurde Dorothy Nicolson erwähnt, Mutter der Schauspielerin und Oscar-Preisträgerin mit dem zweitbeliebtesten Gesicht des Landes Laurel Nicolson. Nur eine vage Ortsangabe: »bei Lavenham, Suffolk«; kein sensationslüsterner Klatsch über blitzende Kuchenmesser oder weinende Kinder oder Geburtstagsfeste am Flussufer. Natürlich nicht. Die geschönte Version der Ereignisse von 1961, auf die sich die Herren bei der Polizei und bei der Presse damals geeinigt hatten, war von den Online-Historikern brav übernommen worden. Henry Jenkins war ein Autor, der vor dem Krieg einen gewissen Ruhm genossen
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