Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
Güte – noch ein Kind erschien, ein Junge, größer als die Mädchen, aber höchstens fünf, sechs Jahre alt, und mit anpackte. Gemeinsam trugen sie den Kinderwagen auf den Gehweg. Dann machten sie sich auf den Weg in Richtung Kensington Church Street. Die Mädchen hüpften voraus, während der Junge hinter seiner Mutter zurückblieb. Laurel beobachtete ihn gerührt. Er bewegte die Lippen und schien ein stummes Lied zu singen; wohl ein Herbstlied, denn er hatte die Hände flach ausgestreckt und ließ sie hin und her trudeln wie Blätter im Wind. Er war ganz und gar in sich versunken. Laurel beobachtete ihn fasziniert. Er erinnerte sie an Gerry als kleiner Junge.
Der liebe Gerry. Ihr Bruder war schon immer anders als andere Kinder gewesen. Die ersten sechs Jahre seines Lebens hatte er kein Wort gesprochen, und wer ihn nicht kannte, musste ihn für zurückgeblieben halten. (Wer allerdings die lärmenden Nicolson-Schwestern kannte, hatte vollstes Verständnis für seine Schweigsamkeit.) Aber Gerry war alles andere als zurückgeblieben, er war intelligent – hochintelligent. Er war der geborene Forscher. Er war Sammler von Fakten und Daten, von Wissen und Wahrheiten, er fand Antworten auf Fragen, die Laurel nie in der Lage gewesen wäre überhaupt nur zu stellen, Fragen zu Zeit und Raum und Materie. Als er sich schließlich dazu durchrang, in Worten zu kommunizieren, Worte laut auszusprechen, hatte er gefragt, ob ihm jemand erklären könne, wie die Menschen verhindern wollten, dass der schiefe Turm von Pisa umfiel (am Abend zuvor war das Thema in den Fernsehnachrichten erwähnt worden).
»Julian!«
Der Ruf riss Laurel aus ihren Erinnerungen. Die Mutter war schon weit voraus und rief ihren Jungen, der noch immer auf Höhe von Laurel dastand und mit seinen Händen spielte. Er ließ erst seine linke Hand sanft landen, bevor er den Kopf hob. In diesem Moment schaute er Laurel an, und als ihre Blicke sich begegneten, weiteten sich seine Augen. Es war Verblüffung, aber auch noch etwas anderes. Ein Wiedererkennen, dem noch die letzte Gewissheit fehlte, wie man es im Alltag oft erlebte. (»Kennen wir uns? Haben wir uns schon mal gesehen? Arbeiten Sie nicht bei der So-und-so-Bank?«)
Laurel wandte sich bereits ab und wollte gehen, als der Junge mit ausdrucksloser Miene sagte: »Du bist Daddys Lady.«
»Ju-li-an!«
Laurel drehte sich abrupt wieder zu dem Jungen um. »Wie bitte?«
»Du bist Daddys Lady.«
Aber ehe sie ihn fragen konnte, was er damit meinte, war der Knirps schon fortgerannt.
10
A uf der Kensington High Street nahm Laurel ein Taxi. Es hatte ganz plötzlich angefangen zu regnen. »Wohin kann ich Sie bringen?«, fragte der Fahrer, als sie auf dem Rücksitz Platz nahm.
»Nach Soho bitte – Charlotte Street Hotel.«
Der Fahrer musterte sie im Rückspiegel. Dann, als er sich in den Verkehr einfädelte, sagte er: »Sie kommen mir bekannt vor. Was machen Sie?«
Du bist Daddys Lady – was in aller Welt konnte der Junge damit gemeint haben? »Ich arbeite in einer Bank.«
Während der Fahrer dazu ansetzte, einen Vortrag über Banker im Allgemeinen und die globale Finanzkrise im Besonderen vom Stapel zu lassen, widmete Laurel sich ihrem Smartphone und ging die Namen in ihrem Adressbuch durch. Bei Gerry hielt sie inne.
Er war mit Verspätung zur Geburtstagsfeier gekommen und musste als Erstes gestehen, dass er sich nicht mehr erinnern konnte, wo er das Geschenk für ihre Mutter hingetan hatte. Aber so kannten sie ihren Bruder, und wie immer freuten sie sich riesig, ihn zu sehen. Mit seinen zweiundfünfzig Jahren war er immer noch auf rührende Weise kindlich; und er trug nach wie vor schlecht sitzende Hosen und den alten braunen Pullover, den Rose ihm vor dreißig Jahren zu Weihnachten gestrickt hatte. Die drei Schwestern gerieten völlig aus dem Häuschen und rissen sich darum, ihm Kuchen und Tee zu servieren. Selbst Ma war kurz aus ihrem Dämmer erwacht, und auf ihrem müden, alten Gesicht hatte sich ein strahlendes Lächeln ausgebreitet, das sie für ihren einzigen Sohn aufgehoben hatte.
Von all ihren Kindern fehlte er ihr am meisten, das wusste Laurel von der netten Krankenschwester. Sie hatte Laurel auf dem Korridor angesprochen, als die Vorbereitungen für die Geburtstagsfeier in vollem Gange waren. »Ich hatte gehofft, Sie zu erwischen.«
Laurel, wie immer sofort auf der Hut, hatte geantwortet: »Um was geht es denn?«
»Nichts Schlimmes, keine Sorge. Aber Ihre Mutter fragt immer wieder nach
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