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Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Titel: Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Morton
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Dolly nach und nach erfahren hatte: als Kind zur Waise geworden, aufgewachsen bei einem Onkel, verheiratet mit einem gut aussehenden und wohl habenden Schriftsteller namens Henry Jenkins, der einen wichtigen Posten beim Informationsministerium innehatte.
    »Dorothy? Kommen Sie, richten Sie mir das Bett und geben Sie mir meine Schlafmaske.«
    Normalerweise wäre Dolly auf eine solche Frau in ihrer Nachbarschaft wohl neidisch gewesen, aber bei Vivien war das anders. Ihr Leben lang hatte Dolly sich nach einer solchen Freundin gesehnt. Nach einer, die sie wirklich verstand (nicht wie die langweilige Caitlin oder die alberne, oberflächliche Kitty), einer, mit der sie Arm in Arm die Bond Street entlangspazieren konnte, elegant und beschwingt, zwei dunkle, langbeinige Schönheiten, nach denen die Leute sich umdrehten. Und jetzt endlich hatte sie Vivien gefunden. In dem Augenblick, als sie sich in der Campden Grove zum ersten Mal gesehen hatten, als ihre Blicke sich begegnet waren und sie einander angelächelt hatten – verstohlen, wissend, verschwörerisch –, war ihnen beiden klar geworden, dass sie Seelenverwandte waren und beste Freun dinnen werden würden.
    »Dorothy!«
    Dolly zuckte zusammen und drehte sich um. Lady Gwendo lyn hatte sich in einem Haufen von rotem Chiffon und Daunen kissen hoffnungslos verfangen und funkelte sie mit geröteten Wangen an. »Ich kann meine Schlafmaske nicht finden.«
    »Ich komme«, sagte Dolly und warf noch einen letzten Blick zu Vivien hinüber, ehe sie die Vorhänge zuzog. »Dann wollen wir doch mal sehen.«
    Nach kurzer, erfolgreicher Suche wurde die Maske, warm und platt gedrückt, unter Lady Gwendolyns gewaltigem linken Oberschenkel dingfest gemacht. Dolly nahm der alten Dame den zinnoberroten Turban vom Kopf und setzte ihn der Marmorbüste auf, die zu diesem Zweck auf der Kommode stand.
    »Vorsicht!«, fauchte Lady Gwendolyn, als Dolly ihr die Schlafmaske aus Satin anlegte. »Wenn Sie mir das Ding so über die Nase ziehen, ersticke ich noch!«
    »Oje«, sagte Dolly, »das hätte gerade noch gefehlt!«
    »Mmmh.« Die alte Dame ließ den Kopf so tief in ihre Kissen sinken, dass ihr Gesicht über allem zu schwimmen schien, eine Insel in einem Meer aus Hautfalten. »Fünfundsiebzig Jahre, die alle lang waren, und was ist aus mir geworden? Eine einsame alte Frau, von ihren Liebsten im Stich gelassen, mit einer jungen Frau als Gefährtin, die mir für ihre Dienste mein Geld abknöpft.«
    »Na, na«, sagte Dolly wie zu einem kleinen Kind. »Was sind das denn für Töne? Über so etwas scherzt man nicht, Lady Gwendolyn. Sie wissen, dass ich mich auch um Sie kümmern würde, wenn Sie mir keinen einzigen Penny dafür bezahlten.«
    »Ja, ja«, knurrte die alte Frau. »Lassen wir’s gut sein.«
    Dolly deckte Lady Gwendolyn sorgfältig zu. Die alte Dame legte ihr Doppelkinn auf den Satinrand der Bettdecke und sagte: »Wissen Sie, was ich tun sollte?«
    »Was denn, Lady Gwendolyn?«
    »Ich sollte alles Ihnen vermachen. Das würde meinem durchtriebenen Neffen eine Lehre sein. Er ist genau wie sein Vater – nur darauf aus, sich alles unter den Nagel zu reißen. Ich hätte nicht übel Lust, meinen Anwalt herzubestellen und es offiziell zu machen.«
    Auf so etwas konnte man unmöglich etwas erwidern; natürlich war es aufwühlend zu wissen, dass Lady Gwendolyn sie so sehr schätzte, aber sich erfreut zu zeigen wäre ihr äußerst ungehörig erschienen. Mit stolzgeschwellter Brust wandte Dolly sich ab und zupfte den Turban der alten Dame noch einmal zurecht.
    Auch Dr. Rufus hatte mit Dolly bereits über Lady Gwendolyns Gedanken gesprochen. Er hatte sie vor einigen Wochen wie üblich zum Essen ausgeführt, und nachdem sie sich ausgiebig über Dollys Privatleben unterhalten hatten (»Und die jungen Männer, Dolly? Eine junge Frau wie du hat doch bestimmt viele Verehrer, oder? Ich gebe dir einen Rat: Such dir einen älteren Mann mit einem guten Beruf – jemanden, der dir alles bieten kann, was du verdient hast«), hatte er sich erkundigt, wie es ihr in dem Haus in der Campden Grove ergehe. Als sie ihm geantwortet hatte, sie habe den Eindruck, Lady Gwendolyn sei mit ihr zufrieden, hatte er den Whisky in seinem Glas kreisen lassen, sodass die Eiswürfel klimperten, und hatte ihr zugezwinkert. »Mehr als zufrieden, nach allem, was ich so höre. Letzte Woche habe ich einen Brief von dem guten alten Peregrine Wolsey erhalten. Er schreibt, seine Tante sei ganz vernarrt in ›mein Mädchen‹, wie er

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