Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
Gwendolyn zu widmen und ihre Gedanken und Gefühle für sich zu behalten.
Bis die alte Dame ihr eines Tages, während Dolly dabei war, ihr die Zehennägel zu feilen, erzählte, was für eine schöne Singstimme sie als junges Mädchen gehabt habe. Da hatte Dolly an ihre Mutter denken müssen und an die blaue Schachtel, die sie heimlich in der Garage aufbewahrt hatte, gefüllt mit Träumen und Erinnerungen, die jetzt nur noch Schutt und Asche waren, und sie war auf der Bettkante der alten Dame, die Nagelfeile in der Hand, in Tränen ausgebrochen.
»Was ist denn passiert?«, fragte Lady Gwendolyn und schaute sie mit offenem Mund an. Sie hätte nicht verblüffter sein können, wenn Dolly plötzlich nackt durchs Zimmer getanzt wäre.
Von Gefühlen überwältigt, hatte Dolly der alten Dame ihr Herz ausgeschüttet. Hatte ihr von ihrer Mutter, ihrem Vater und Cuthbert erzählt, wie sie geredet hatten, wie sie sie manchmal zur Weißglut getrieben hatten, wie ihre Mutter ihr immer wieder das Haar glatt gestrichen hatte, obwohl sie das nicht ausstehen konnte; von den Ferien am Strand, den Cricketspielen und der Geschichte mit dem Esel. Zum Schluss hatte Dolly berichtet, wie sie hocherhobenen Hauptes das Haus verlassen hatte und nur ganz kurz stehen geblieben war, als ihre Mutter ihren Namen gerufen hatte – Janice Smitham, die eher gehungert hätte, als in Hörweite der Nachbarn die Stimme zu erheben – und hinter ihr hergelaufen war, um ihr das Buch zu geben, das sie als Abschiedsgeschenk für sie gekauft hatte.
»Mmmh«, hatte Lady Gwendolyn gebrummt, als Dolly geendet hatte. »Das tut natürlich weh, aber Sie sind nicht die Erste, die ihre Familie verliert.«
»Ich weiß.« Dolly holte tief Luft. Das Echo ihrer Stimme hing noch immer im Zimmer, und sie fürchtete schon, dass sie jetzt entlassen würde. Lady Gwendolyn mochte keine Gefühlsausbrüche (außer den eigenen).
»Als Henny Penny mir weggenommen wurde, dachte ich, ich müsste sterben.«
Dolly nickte, immer noch in Erwartung der Kündigung.
»Aber Sie sind noch jung; Sie werden das schon schaffen. Sehen Sie sich nur die von gegenüber an.«
Es stimmte, Vivien führte ein traumhaftes Leben, doch zwischen ihr und Dolly gab es einige entscheidende Unterschiede. »Sie hatte einen reichen Onkel, der sie aufgenommen hat«, sagte Dolly leise. »Sie ist die Erbin eines großen Vermögens und die Ehefrau eines berühmten Schriftstellers. Und ich …« Sie biss sich auf die Lippe, um nicht schon wieder zu weinen. »Ich bin …«
»Na ja, ganz allein sind Sie ja nun auch wieder nicht, oder, Sie Dummchen?«
Lady Gwendolyn hatte ihr die Tüte mit den Süßigkeiten hingehalten und zum ersten Mal davon angeboten. Dolly war so verblüfft, dass sie zuerst gar nicht begriff, doch dann hatte sie zögernd in die Tüte gelangt und eine rot-grüne Wunderkugel herausgefischt. Sie hatte die Finger um die süße Kugel geschlossen, bis sie in ihrer warmen Handfläche zu schmelzen begann, und feierlich geantwortet: »Stimmt. Ich habe ja Sie.«
Lady Gwendolyn hatte sich schniefend abgewandt. »Ja, wir haben einander«, hatte sie gesagt, und in ihrer Stimme schwang tatsächlich so etwas wie Rührung mit.
In ihrem Zimmer legte Dolly die neueste Ausgabe von The Lady zu den anderen Heften. Später würde sie die Zeitschrift gründlich durchblättern und die hübschesten Bilder ausschneiden, um sie in ihr Ideenheft einzukleben, aber im Moment hatte sie wichtigere Dinge zu tun.
Sie ging auf die Knie und holte die Banane unter ihrem Bett hervor, die sie dort versteckt hatte, nachdem Mr. Hopton, der Gemüsehändler, sie am Dienstag unter der Theke »gefunden« und ihr geschenkt hatte. Eine Melodie vor sich hinsummend, verließ sie ihr Zimmer und schlich den Flur hinunter. Eigentlich gab es keinen Grund zu schleichen – Kitty und die anderen saßen im Kriegsministerium und hackten auf die Tastaturen ihrer Schreibmaschinen ein, die Köchin stand schlecht gelaunt mit einer Handvoll Essensmarken beim Metzger Schlange, und Lady Gwendolyn lag friedlich schnarchend im Bett –, aber es machte ihr einfach Spaß. Und das Beste war, dass sie jetzt eine ganze Stunde für sich allein hatte.
Sie lief die Treppe hoch, nahm den kleinen Schlüssel aus der Ta sche, den sie sich hatte anfertigen lassen, und betrat Lady Gwen dolyns Ankleidekammer. Nicht den engen, begehbaren Wandschrank, aus dem Dolly jeden Morgen ein zeltartiges Gewand nahm, um den massigen Körper der alten Dame zu bedecken, o nein.
Weitere Kostenlose Bücher