Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
Die Ankleidekammer war ein prächtiges Zimmer, vollgestopft mit zahllosen Kleidern, Schuhen, Mänteln und Hüten, wie Dolly sie nur aus den Zeitschriften kannte. Seide und Pelz hingen nebeneinander in riesigen offenen Kleiderschränken, und in großen Regalen standen die dazu passenden kleinen Satinschuhe. Die runden Hutschachteln, auf denen die Namen der Hutmacher des Nobelviertels Mayfair prangten – Schiaparelli, Coco Chanel, Rose Valois –, türmten sich bis fast an die Decke, sodass man eine Trittleiter brauchte, um an die obersten zu gelangen.
Vor dem Rundbogenfenster mit seinen schweren Samtvorhängen, die bis zum Boden reichten (und die wegen der deutschen Flieger jetzt immer zugezogen waren), stand ein Toilettentisch mit geschwungenen Beinen und einem ovalen Spiegel, darauf ein Satz versilberte Bürsten und eine Reihe von Fotografien in versilberten Rahmen. Auf allen Fotos waren dieselben zwei jungen Frauen zu sehen: Penelope und Gwendolyn Caldicott. Bei den meisten handelte es sich um offizielle Porträts mit dem Namen des Fotoateliers in Schreibschrift am unteren Bildrand. Aber es gab auch einige Schnappschüsse, offenbar bei irgendwelchen Gesellschaften aufgenommen. Ein Foto faszinierte Dolly ganz besonders. Auf diesem Bild waren die Caldicott-Schwestern schon etwas älter – mindestens fünfunddreißig –, und sie standen auf einer prächtigen geschwungenen Treppe, wo sie von Cecil Beaton fotografiert worden waren. Lady Gwendolyn hatte eine Hand auf ihre Hüfte gelegt und blickte direkt in die Kamera, während ihre Schwester etwas (oder jemanden) außerhalb des Bilds anschaute. Das Foto war auf dem Fest entstanden, auf dem Penelope sich verliebt hatte.
Die arme Lady Gwendolyn; sie konnte nicht ahnen, dass dieser Abend ihr Leben verändern würde. Sie sah so hübsch aus: Man konnte sich unmöglich vorstellen, dass die alte Dame im ersten Stock einmal so jung gewesen sein sollte. (Wie vielleicht alle jungen Menschen kam Dolly überhaupt nicht auf den Gedanken, dass ihr dasselbe Schicksal blühen könnte.) Das zeigte, so dachte Dolly traurig, wie schwer Verlust und Verzweiflung auf einem Menschen lasten konnten, wie solche Schicksalsschläge einen nicht nur innerlich, sondern auch äußer lich veränderten. Das Abendkleid aus glänzendem Satin, das Lady Gwendolyn auf dem Foto trug, war von dunkler Farbe, und der Stoff war schräg geschnitten, sodass er ihre Rundungen gut zur Geltung brachte. Dolly hatte die Kleiderschränke von oben bis unten durchsucht, bis sie es schließlich gefunden hatte, auf einem Bügel unter mehreren anderen Kleidern, und sie war vor Glück erschaudert, als sie sah, dass es dunkelrot war, die schönste Farbe überhaupt.
Es war das erste von Lady Gwendolyns Kleidern, das sie an probiert hatte, wenn auch nicht das letzte. Nein, bevor Kitty und die anderen eingezogen waren, als sie die Abende in dem Haus in der Campden Grove noch für sich allein gehabt hatte, hatte Dolly viel Zeit hier oben verbracht. Sie hatte einen Stuhl unter die Klinke geklemmt und sich bis auf die Unterwäsche ausgezogen und spielte Verkleiden. Manchmal setzte sie sich auch an den Toilettentisch, puderte sich das Dekolleté, kramte in den Schubladen voll mit Haarspangen, die mit Diamanten besetzt waren, und kämmte sich das Haar mit der Bürste mit Wildschweinborsten – was hätte sie dafür gegeben, eine solche Bürste zu besitzen, mit ihrem Namen auf dem Griff eingraviert …
Aber heute hatte sie für solche Spielereien keine Zeit. Dolly setzte sich im Schneidersitz auf das samtene Kanapee unter dem Kronleuchter und schälte ihre Banane. Mit geschlossenen Augen biss sie ein Stück davon ab und seufzte wohlig – es stimmte, verbotene (oder zumindest streng rationierte) Früchte waren die süßesten. Sie aß die ganze Banane auf, genoss jeden Bissen, dann legte sie die Schale vorsichtig neben sich ab. Angenehm gesättigt wischte sie sich die Hände ab und machte sich an die Arbeit. Sie hatte Vivien etwas versprochen, und sie würde zu ihrem Wort stehen.
Auf Knien zog sie die Hutschachtel aus ihrem Versteck unter den schwankenden Kleidern hervor. Am Tag zuvor hatte sie den mit Perlen bestickten Kapotthut mit einem anderen Hut zusammengepackt und die Kleidungsstücke, die sie gesammelt hatte, in die leere Hutschachtel gestopft. Der Freiwilligendienst der Frauen, dem Dolly sich kürzlich angeschlossen hatte, sammelte ausrangierte Kleidungsstücke, um sie zu flicken und umzuarbeiten, und Dolly wollte ihren
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