Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
sich ausdrückte.« Dann hatte Dr. Rufus einen Moment lang verträumt vor sich hin gelächelt, ehe er fortfuhr: »Und er schreibt, er sei um sein Erbe besorgt. Er hat mir regelrecht Vorwürfe gemacht, dass ich dich an seine Tante empfohlen habe.« Er hatte gelacht, aber Dolly hatte nur nachdenklich gelächelt. Tage-und wochenlang hatte sie immer wieder über das nachgedacht, was Dr. Rufus ihr erzählt hatte.
Tatsache war, dass alles, was Dolly Dr. Rufus gesagt hatte, der Wahrheit entsprach. Zwar hatten sie eine Weile gebraucht, um sich aneinander zu gewöhnen, doch dann hatte Lady Gwendolyn, von der allgemein bekannt war (und die das auch von sich selbst behauptete), dass sie alle anderen Menschen verachtete, ihre junge Gesellschafterin ins Herz geschlossen. Was sehr erfreulich war. Nur bedauerlich, dass Dolly einen so hohen Preis für die Zuneigung der alten Dame hatte zahlen müssen.
Der Anruf war im November gekommen; die Köchin hatte das Gespräch entgegengenommen und Dolly zugerufen, es sei für sie. Die Erinnerung daran tat ihr weh, aber in dem Moment hatte Dolly es so aufregend gefunden, in so einem vornehmen Haus am Telefon verlangt zu werden, dass sie die Treppe hinuntergeeilt war, den Hörer ergriffen und in feierlichem Ton gesagt hatte: »Ja, hallo? Dorothy Smitham am Apparat.« Und dann hatte Mrs. Potter, die Nachbarin und Freundin ihrer Mutter in Coventry, in die Leitung geschrien: »Sie sind alle tot, die ganze Familie. Eine Brandbombe – sie haben es nicht rechtzeitig in den Luftschutzbunker geschafft!«
Da hatte sich in Dolly ein Abgrund aufgetan, es war, als würde ein Strudel aus Entsetzen, Trauer und Angst sie in die Tiefe ziehen. Sie hatte den Telefonhörer fallen lassen und wie versteinert in der großen Eingangshalle der Villa gestanden und sich furchtbar klein und allein gefühlt, wie ein Kind, das sich verirrt hatte. Dollys ganzes Leben löste sich auf, alle ihre Erinnerungen fielen wie Spielkarten zu Boden, wo sie in einem heillosen Durcheinander landeten, während die Bilder darauf bereits verblassten. In dem Augenblick war die Küchenhilfe eingetroffen und hatte ihr einen »Guten Morgen« gewünscht, und Dolly hatte das Mädchen nur wortlos angesehen und war wie eine Schlafwandlerin wieder in den ersten Stock gegangen, wo Lady Gwendolyn fuchsteufelswild mit ihrem silbernen Glöck chen bimmelte und das Bett abklopfte auf der Suche nach ihrer Brille, die sie achtlos irgendwo abgelegt hatte.
Anfangs hatte Dolly mit niemandem über das Schicksal ihrer Familie gesprochen, nicht einmal mit Jimmy, der natürlich davon gehört hatte und sie trösten wollte. Als sie ihm erklärt hatte, sie komme schon zurecht, schließlich sei Krieg und alle hätten Verluste zu beklagen, hatte er sie für tapfer gehalten, aber es war keine Tapferkeit, die Dolly schweigen ließ. Ihre Gefühle waren so kompliziert, die Erinnerungen daran, unter welchen Umständen sie von zu Hause fortgegangen war, noch so frisch, dass sie lieber nicht darüber reden wollte, aus Angst vor dem, was sie sagen und empfinden würde. Seit sie nach London gekommen war, hatte sie ihre Eltern nicht mehr gesehen: Ihr Vater hatte ihr einen Besuch untersagt, es sei denn, sie tue es, um zu verkünden, dass sie endlich »vernünftig werden« und »ein anständiges Leben« führen wolle, aber ihre Mutter hatte ihr heimlich geschrieben; und in ihrem letzten Brief hatte sie sogar angedeutet, dass sie vorhabe, demnächst nach London zu kommen, um das »herrschaftliche Haus und die vornehme Dame kennenzulernen, von der du in deinen Briefen so viel erzählst«. Aber dafür war es jetzt zu spät. Ihre Mutter würde Lady Gwendolyn nie kennenlernen, sie würde nie einen Fuß in das Haus Campden Grove Nr. 7 setzen und auch nicht erfahren, wie gut es Dolly in London erging.
Und der arme Cuthbert – Dolly konnte es kaum ertragen, an ihn zu denken. Sie erinnerte sich an seinen letzten Brief, an jedes einzelne Wort: Wie er bis ins kleinste Detail die Luftschutzhütte beschrieben hatte, die sie im Garten errichtet hatten, die Bildchen von Spitfires und Hurricanes, die er gesammelt hatte, um damit die Wände zu schmücken, und was er mit den deutschen Piloten machen würde, die er gefangen nehmen würde. Er war so stolz und so kindlich begeistert und tapfer, und nun war er nicht mehr da. Das Bewusstsein, dass sie jetzt eine Waise war, erfüllte Dolly mit solcher Traurigkeit und Einsamkeit, dass sie nichts anderes tun konnte, als sich ihrer Arbeit für Lady
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