Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
ich ein, dass sie irgendwo untergebracht werden müssen. Aber ausgerechnet hier ? In meinem Haus? Peregrine ist außer sich – die Briefe, die er mir schreibt! Die Vorstellung, dass diese Geschöpfe in diesem Haus wohnen, zwischen seinen Erbstücken, bringt ihn schier um den Verstand.« Die Schadenfreude über den Verdruss ihres Neffen hätte ihr beinahe ein Lächeln entlockt, doch die tiefe Verbitterung in ihrem Herzen ließ es nicht dazu kommen. Sie packte Dolly am Handgelenk. »Sie empfangen doch nicht etwa Herrenbesuch , oder, Dolly?«
»O nein, Lady Gwendolyn. Die wissen, was Sie davon halten, dafür habe ich gesorgt.«
»Das würde ich auf keinen Fall dulden. Unter meinem Dach wird keine Unzucht getrieben.«
Dolly nickte ernst. Sie wusste, dass dieses Thema die Hauptursache für die Schroffheit ihrer Dienstherrin war. Dr. Rufus hatte ihr alles über Lady Gwendolyns Schwester Penelope erzählt. Die beiden waren als Kinder unzertrennlich gewesen, und sie waren sich äußerlich und im Charakter so ähnlich gewesen, dass man sie häufig für Zwillinge gehalten hatte, trotz des Altersunterschieds von anderthalb Jahren. Sie waren überall gemeinsam aufgetaucht – auf Bällen, zu Landpartien –, und dann hatte Penelope einen Frevel begangen, den ihre Schwester ihr nie verziehen hatte. »Sie hat sich verliebt und geheiratet«, hatte Dr. Rufus gesagt und mit der Genugtuung eines Geschichtenerzählers, der bei der Pointe angelangt ist, an seiner Zigarre gezogen, »und ihrer Schwester das Herz gebrochen.«
»Machen Sie sich keine Sorgen«, versuchte Dolly Lady Gwendolyn zu besänftigen. »Dazu wird es nicht kommen. Ehe Sie sich versehen, ist der Krieg zu Ende, und sie fahren alle wieder nach Hause.« Dolly hatte keine Ahnung, ob das stimmte – insgeheim hoffte sie, dass dem nicht so war: In dem großen Haus war es nachts unheimlich still, und mit Kitty und den anderen hatte sie wenigstens ein bisschen Spaß –, aber es war das Einzige, was ihr zu sagen einfiel, vor allem wo die alte Dame sich so entrüstete. Die Arme, es musste schlimm sein, die Seelenfreundin zu verlieren. Dolly konnte sich kaum etwas Schlimmeres vorstellen.
Lady Gwendolyn ließ sich wieder in ihre Kissen sinken. Die Tirade gegen die Nachtklubs und deren üblen Einfluss, die Heftigkeit, mit der sie sich die babylonischen Zustände in diesen Lasterhöhlen ausgemalt hatte, die Erinnerungen an ihre Schwester und die Vorstellung, unter ihrem Dach könnte Unzucht getrieben werden – all das hatte seinen Tribut gefordert. Sie war müde und abgespannt und so schlapp wie der Sperrballon, der kürzlich in Notting Hill abgestürzt war.
»Schauen Sie mal, Lady Gwendolyn«, sagte Dolly, »was für ein leckeres Karamellbonbon ich für Sie habe. Das gönnen Sie sich, und dann machen Sie ein schönes Nickerchen.«
»Also gut«, knurrte die alte Dame. »Aber nur ein Stündchen, Dorothy. Lassen Sie mich nicht länger schlafen als bis drei – ich möchte unser Kartenspiel nicht verpassen.«
»Auf gar keinen Fall«, sagte Dolly und schob ihr das Karamellbonbon in den Mund.
Während Lady Gwendolyn genüsslich ihr Bonbon lutschte, ging Dolly zum Fenster, um die Verdunkelungsvorhänge zu schließen. Als sie die Vorhänge aus der Halterung löste, fiel ihr Blick auf das Haus gegenüber, und was sie sah, ließ ihr den Atem stocken.
Vivien war wieder da. Hinter dem mit Kreuzen aus Klebestreifen gesicherten Fenster saß sie an ihrem Schreibtisch, reglos wie eine Statue, nur die Finger ihrer rechten Hand spielten an ihrer langen Perlenhalskette. Dorothy winkte aufgeregt, hoffte, Vivien würde sie bemerken und zurückwinken, aber ihre Freun din war zu sehr in Gedanken versunken.
»Dorothy?«
Dolly blinzelte. Vivien (die ihren Namen schrieb wie Vivien Leigh) war wahrscheinlich die schönste Frau, die sie je gesehen hatte. Sie hatte ein herzförmiges Gesicht, dunkelbraunes, glänzendes Haar, das sie geschickt hochsteckte, und volle, scharlachrot geschminkte Lippen; ihre weit auseinanderstehenden Augen wurden von perfekt geschwungenen Brauen eingerahmt. Aber es war nicht nur das, was ihre Schönheit ausmachte. Es waren nicht ihre eleganten Röcke und Blusen, sondern die Art, wie sie sie trug, entspannt, lässig; es war die lange Perlenkette, die sie so unbekümmert um den Hals geschlungen hatte, der braune Bentley, den sie gefahren hatte, bis sie ihn wie ein Paar gebrauchte Stiefel an den Ambulanzdienst hatte abgeben müssen. Es war ihre tragische Geschichte, die
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