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Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Titel: Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Morton
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ausgeprägten Menschenhass zu kultivieren. Das Ergebnis war beängstigend, und während der ersten sechs Monate hatte Dolly sich zuweilen gefühlt, als wäre sie der bösen Hexe aus einem Märchen in die Fänge geraten. Inzwischen wusste sie es besser: Lady Gwendolyn war schroff und kratzbürstig, aber hinter dem barschen Ton verbarg die alte Dame ihr gegenüber durchaus so etwas wie Zuneigung.
    »Zuerst die Schlagzeilen?«, fragte Dolly liebenswürdig und setzte sich wieder auf die Bettkante.
    »Wie Sie wünschen.« Lady Gwendolyn zuckte mit den Schul tern und verschränkte die feuchten Hände vor dem dicken Bauch. »Mir ist es einerlei.«
    Dolly schlug die neueste Ausgabe von The Lady auf und suchte die Klatschspalten. Sie räusperte sich und begann, in angemessen ernstem Tonfall die Berichte über das Treiben von Leuten vorzulesen, die nicht in dieser Welt zu leben schienen. Es war eine Welt, von deren Existenz Dolly bis dahin nicht einmal etwas geahnt hatte. Sicher, sie hatte die vornehmen Villen am Stadtrand von Coventry gesehen und hin und wieder ihren Vater mit wichtiger Miene von Spezialanfertigungen für eine der besseren Familien reden hören, aber die Geschichten, die Lady Gwendolyn ihr (wenn sie in der richtigen Stimmung war) über ihre Abenteuer mit ihrer Schwester Penelope erzählte – über ihre Nachmittage im Café Royal, über die Zeit, in der sie zusammen in Bloomsbury gewohnt hatten, über einen Bildhauer, für den sie Modell gestanden hatten und der in sie beide verliebt gewesen war –, all das übertraf Dollys wildeste Fantasien, und das sollte wirklich etwas heißen.
    Während Dolly nun das Neuste vom Neuen über die Reichen und Schönen vorlas, lehnte sich Lady Gwendolyn scheinbar gelangweilt in ihre Kissen zurück, während sie in Wirklichkeit genau zuhörte. Es war immer dasselbe; ihre Neugier war so groß, dass sie sich nie lange zurückhalten konnte.
    »Ach du je«, fuhr sie auf. »Um Lord und Lady Horsquith scheint es ja zurzeit nicht gerade zum Besten zu stehen. Scheidung? Wer hätte das gedacht! Ah, aber man muss zwischen den Zeilen lesen können. Sie hat sich wohl wieder mit diesem Kerl eingelassen, mit diesem Maler. Kein Wunder. Diese Frau kennt keine Diskretion, sie lässt sich ganz und gar von ihren …« – Lady Gwendolyn kräuselte angewidert die Lippen, als sie das Wort ausspuckte – »… Leidenschaften beherrschen. Genau wie damals ihre Mutter.«
    »Ihre Mutter?«, wagte Dolly zu fragen.
    Lady Gwendolyn verdrehte die Augen. »Also wirklich! Lionel Rufus hat nichts von Begriffsstutzigkeit erwähnt, als er Sie empfohlen hat. Ich halte zwar nicht allzu viel von intelligenten Frauen, aber eine dumme Frau kann ich nicht ertragen. Sind Sie dumm, Miss Smitham?«
    »Ich hoffe nicht, Lady Gwendolyn.«
    »Mmmmh«, machte sie in einem Ton, der erkennen ließ, dass sie noch zu keiner endgültigen Beurteilung gelangt war. »Lady Horsquiths Mutter, Lady Prudence Dyer, war eine ausgesprochene Nervensäge, die uns alle mit ihrer Stimmungsmache für das Frauenwahlrecht zu Tode gelangweilt hat. Henny Penny hat sie immer auf köstliche Weise imitiert – sie konnte unglaublich unterhaltsam sein, wenn sie wollte. Wie nicht anders zu erwarten, hat Lady Prudence die Geduld der Leute so lange strapaziert, bis niemand sie mehr eingeladen hat. Seien Sie egoistisch, seien Sie ungehobelt, dreist oder boshaft, Dorothy, aber seien Sie nie, niemals, langweilig. Nach einer Weile ist sie von der Bildfläche verschwunden.«
    »Verschwunden?«
    Lady Gwendolyn machte eine wegwerfende Handbewegung, und wieder rieselte Asche von ihrer Zigarette auf den Teppich. »Ist mit einem Dampfer nach Indien gefahren oder nach Tansania oder Neuseeland … Weiß der Himmel.« Und mit einem hinterhältigen Lächeln fügte sie an: »Aber ein kleines Vögelchen hat mir erzählt, dass sie jetzt in einem grässlichen Land namens Sansibar mit einem Eingeborenen zusammenhaust.«
    »Wirklich?«
    »Jawohl.« Lady Gwendolyn zog so inbrünstig an ihrer Zigarette, dass ihre Augen ganz schmal wurden. Für eine Frau, die ihr Boudoir nicht mehr verlassen hatte, seit ihre Schwester vor dreißig Jahren geheiratet hatte, war sie erstaunlich gut informiert. Unter den Leuten, über die in The Lady berichtet wurde, gab es kaum jemanden, den sie nicht kannte, und sie war bemerkenswert geschickt darin, sie alle dazu zu bringen, genau das zu tun, was sie wollte. Sogar Caitlin Rufus hatte den Mann geheiratet, den Lady Gwendolyn für sie bestimmt

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