Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
gebraten, also lass die Finger vom Herd.«
»In Ordnung.« Sein Vater trank einen Schluck Tee.
»Den Wasserhahn brauchst du auch nicht aufzudrehen.«
»Hä?«
»Ich helf dir beim Spülen, wenn ich zurück bin.«
Sein Vater schaute ihn verwirrt an, dann nickte er und sagte: »Du siehst fesch aus, mein Junge. Hast wohl etwas vor heute Abend?«
Jimmy seufzte. »Ja, Dad.«
»In ein vornehmes Restaurant?«
»Nur eine Verabredung, Dad.«
»Mit einer Dame?«
Jimmy musste über die schüchterne Ausdrucksweise seines Vaters lächeln. »Ja, Dad. Mit einer Dame.«
»Magst du sie?«
»Sehr.«
»Du musst sie bald mal mitbringen.« Einen Moment lang lag das alte spitzbübische Funkeln in den Augen seines Vaters, und Jimmy sehnte sich plötzlich nach der Zeit zurück, als er das Kind gewesen war und sein Vater für ihn gesorgt hatte. Im selben Augenblick schämte er sich für seine Gefühle: Er war einundzwanzig – zu alt für solche Träumereien. Er schämte sich noch mehr, als sein Vater lächelte und eifrig nachhakte: »Bringst du die junge Dame einmal zum Abendessen mit, Jimmy? Damit deine Mutter und ich sehen können, ob sie auch gut für dich ist?«
Jimmy gab seinem Vater einen Kuss auf die Stirn. Er hatte es längst aufgegeben, ihm zu erklären, dass die Mutter fort war, dass sie sie vor zehn Jahren verlassen hatte, um mit einem Mann zusammenzuleben, der ein schickes Auto und ein großes Haus besaß. Was nützte es, wenn er ihn daran erinnerte? Es machte seinen Vater glücklich zu denken, sie sei nur kurz aus dem Haus gegangen, um für Essensrationen Schlange zu stehen, und Jimmy brachte es nicht über sich, ihn auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen. Das Leben war in diesen Zeiten schon grausam genug. »Pass auf dich auf, Dad«, sagte er. »Ich schließe die Wohnungstür ab, aber Mrs. Hamblin hat ja einen Schlüssel, und sie hilft dir in den Keller, falls es Fliegeralarm gibt.«
»Man kann nie wissen, Jimmy. Es ist schon sechs Uhr, und von Jerry immer noch keine Spur. Vielleicht hat er sich den Abend freigenommen.«
»Darauf würde ich nicht wetten. Der Mond scheint heute Nacht so hell wie eine Räuberlaterne. Mrs. Hamblin kommt dich holen, sobald die Sirenen losgehen.«
Sein Vater fummelte an Finchies Käfig herum.
»Okay, Dad?«
»Ja, ja, okay. Amüsier dich gut und mach dir keine Sorgen. Dein alter Herr wird schon nicht abhandenkommen. Beim letz ten Mal hat’s mich nicht erwischt, und es wird mich auch diesmal nicht erwischen.«
Jimmy lächelte und schluckte den Kloß herunter, den er in letzter Zeit dauernd im Hals hatte – ein Klumpen aus Liebe und Traurigkeit, für die er keine Worte fand, eine Traurigkeit, die mit viel mehr zu tun hatte als nur mit seinem kranken Vater. »Ganz genau, Dad. Trink deinen Tee und hör dir an, was sie im Radio bringen. Eh du dichs versiehst, bin ich auch schon wieder zurück.«
Dolly eilte durch eine vom Mond erleuchtete Straße in Bayswater. Vor zwei Tagen hatte eine Bombe in eine Kunstgalerie eingeschlagen, auf deren Dachboden große Mengen an Farben und Lacken lagerten. Der abwesende Besitzer hatte jedoch keine Sicherungsmaßnahmen getroffen, und es herrschte noch immer ein einziges Chaos: bergeweise Ziegelsteine und verkohlte Holzteile, aus den Rahmen gebrochene Türen und Fenster, Glasscherben überall. Dolly hatte wie so häufig auf dem Dach der Villa gehockt und den Brand gesehen, eine gewaltige Feuersbrunst, die dunkle Rauchwolken in den von den Flammen erleuchteten Himmel spuckte.
Den Strahl ihrer Taschenlampe auf den Boden gerichtet, umkurvte sie einen Sandsack, brach sich in einem Schlagloch beinahe einen Absatz ab und musste sich vor einem übereifrigen Wachmann in Sicherheit bringen, der in seine Trillerpfeife blies und sie anherrschte, sie solle vernünftig sein und im Haus bleiben – ob ihr noch nicht aufgefallen sei, dass das Mondlicht heute ideal für Bombenangriffe war?
Anfangs hatte Dolly wie alle anderen auch Angst vor den Bom ben gehabt, aber neuerdings war sie gern in der Stadt unter wegs, wenn die Bomben fielen. Als sie Jimmy davon erzählt hatte, machte er sich Sorgen; er fürchtete, sie sei lebensmüde geworden, nach dem, was ihrer Familie zugestoßen war, aber das war es nicht. Im Gegenteil, sie fühlte sich nie lebendiger als bei ihren nächtlichen Streifzügen, ein ungekanntes Hochgefühl überkam sie. Sie hätte jetzt nirgendwo lieber sein wollen als in London; das war das Leben, so etwas hatte es noch nie gegeben und würde es
Weitere Kostenlose Bücher