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Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Titel: Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Morton
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wahrscheinlich auch nie wieder geben. Nein, Dolly hatte kein bisschen Angst mehr, nicht vor den Bomben – es war schwer zu erklären, aber irgendwie wusste sie, dass es einfach nicht ihr Schicksal war, von einer Bombe getroffen zu werden.
    Im Angesicht von Gefahr keine Angst zu haben war erregend. Dolly glühte vor Begeisterung, und da war sie nicht die Einzige; in der ganzen Stadt herrschte eine ganz besondere Atmosphäre, und manchmal kam es ihr so vor, als wären alle Leute verliebt. Was sie jedoch heute Abend nach draußen gezogen und dazu gebracht hatte, durch Schutt und Trümmer zu laufen, war mehr als die übliche Aufregung. Im Grunde genommen hätte sie gar nicht zu eilen brauchen – sie war rechtzeitig aufgebrochen, nachdem sie Lady Gwendolyn ihre drei Gläschen Sherry verabreicht hatte; das war die übliche Dosis, um sie in seligen Schlaf sinken zu lassen, aus dem selbst die lautesten Explosionen sie nicht wecken würden (die alte Dame war zu vornehm und zu traurig, um sich in einen Luftschutzkeller zu begeben) –, aber Dolly war über das, was sie getan hatte, viel zu aufgeregt, um zu schlendern; beschwingt von ihrem Wagemut hätte sie hundert Meilen rennen können, ohne außer Atem zu geraten.
    Aber sie rannte nicht. Schließlich musste sie an ihre Seidenstrümpfe denken. Es war ihr letztes Paar ohne Laufmaschen. Wenn sie sich ihr letztes Paar zerriss, würde sie sich mit einem Augenbrauenstift eine Linie auf die Waden malen müssen, wie die ordinäre Kitty es tat. Na, vielen Dank. Als ein Bus in der Nähe des Marble Arch hielt, stieg Dolly ein. Lieber auf Nummer sicher gehen.
    Sie quetschte sich in den heillos überfüllten Bus und wandte das Gesicht ab, um nicht den Mundgeruch des Mannes neben ihr einzuatmen, der gerade einen Vortrag über die Fleischrationierung hielt und darüber, wie man Leber am besten zubereitete. Sie war froh, als sie den Piccadilly Circus erreichten und sie wieder aus dem Bus springen konnte.
    »Gute Nacht, junge Frau!«, rief ihr ein älterer Mann in Zivilschutzuniform nach, als der Bus weiterfuhr.
    Dolly hob eine Hand zum Gruß. Zwei Soldaten auf Fronturlaub, die angetrunken »Nellie Dean« grölten, hakten sich im Vorbeigehen rechts und links bei ihr ein und drehten sie einmal um ihre Achse. Dolly lachte, als sie sich beide mit einem Wan genkuss verabschiedeten, um ihren Weg fortzusetzen, und winkte ihnen nach.
    Jimmy wartete auf sie an der Ecke Charing Cross Road und Long Acre. Dolly sah ihn im Mondlicht auf dem kleinen Platz stehen, an dem sie sich verabredet hatten, und blieb stehen. Kein Zweifel, Jimmy Metcalfe war ein gut aussehender Mann. Größer, als sie ihn in Erinnerung hatte, ein bisschen dünner, aber das Haar auf dieselbe Weise nach hinten gekämmt, dieselben Wangenknochen, die seinem Gesicht einen Ausdruck verliehen, als wolle er im nächsten Moment eine witzige oder pfiffige Bemerkung machen. Er war nicht der einzige gut aussehende Mann, den sie kennengelernt hatte, gewiss nicht (in Zeiten wie diesen war es nahezu eine patriotische Pflicht, ein bisschen mit den Soldaten zu flirten, die auf Heimaturlaub waren), aber er hatte etwas an sich, etwas Animalisches vielleicht – sowohl körperliche Kraft als auch charakterliche Stärke –, das Dollys Herz wild pochen ließ.
    Er war so gut , so ehrlich und offen, dass Dolly sich fühlte, als hätte sie einen Hauptgewinn gezogen. Als sie ihn jetzt dort stehen sah, in einem feinen schwarzen Anzug, konnte sie einen Seufzer nicht unterdrücken. Er sah einfach umwerfend aus in dem Anzug – wenn sie es nicht besser gewusst hätte, hätte sie ihn wirklich für einen eleganten Gentleman gehalten. Sie nahm Lippenstift und Klappspiegel aus ihrer Handtasche, stellte sich so, dass das Mondlicht auf ihr Gesicht fiel, und zog ihre Lippen nach. Sie machte einen Kussmund, anschließend klappte sie den Spiegel wieder zu.
    Sie betrachtete den braunen Mantel, für den sie sich schließlich entschieden hatte; der Kragen und die Ärmel waren mit Fell besetzt – Nerz vielleicht oder auch Fuchs. Es war nicht gerade die neueste Mode – der Mantel war mindestens zwanzig Jahre alt –, aber im Krieg waren solche Dinge nicht so wichtig. Außerdem war teure Kleidung eigentlich zeitlos; das hatte Lady Gwendolyn ihr jedenfalls gesagt, und die kannte sich mit solchen Dingen aus. Dolly schnupperte an ihren Mantelärmeln. Das gute Stück hatte fürchterlich nach Mottenkugeln gestunken, als sie es aus dem Ankleidezimmer befreit hatte, aber sie

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