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Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Titel: Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Morton
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sie hob die Hände und bewegte die Finger, als würde sie unsichtbare Fäden weben. Sie lächelte. Was sie sah, gefiel ihr. Sie sah genauso aus wie Viola in dem Buch.

12
    E ndlich Samstagabend. Jimmy kämmte sich das dunkle Haar nach hinten und versuchte, die längeren Strähnen an der Stirn zu bändigen. Ohne Brylcreem war das ein aussichtsloses Unterfangen, aber das Geld hatte diesen Monat nicht für eine neue Dose gereicht. Er tat sein Bestes mithilfe von Wasser und gutem Zureden, aber das Ergebnis war alles andere als zufriedenstellend. Die Glühbirne über ihm flackerte, und er warf ihr einen strengen Blick zu, damit sie nicht den Geist aufgab; er hatte bereits die Glühbirnen aus dem Wohnzimmer geklaut, und als Nächstes war das Badezimmer dran. Aber er hatte keine Lust, im Dunkeln zu baden. Die Birne wurde noch schwächer, und im Halbdunkel hörte Jimmy leise Musik aus dem Radio in der Wohnung unter ihm. Als das Licht wieder heller leuchtete, heiterte sich auch seine Stimmung wieder auf, und er begann, die Melodie von Glenn Millers »In the Mood« mitzupfeifen.
    Der Anzug hatte einmal seinem Vater gehört, als der noch die Firma, W. H. Metcalfe & Sons, geführt hatte. Es war ein sehr feiner Anzug, und Jimmy kam sich ein bisschen albern vor, wenn er ehrlich war; es war Krieg, und es war schon schlimm genug, keine Uniform zu tragen, ganz zu schweigen davon, wie ein eitler Gockel herumzulaufen. Aber Dolly hatte gesagt, er solle sich fein machen – Wie ein Gentleman, Jimmy , hatte sie in ihrem Brief geschrieben, ein richtiger Gentleman! –, und sein Kleiderschrank bot in dieser Hinsicht nicht viel Auswahl. Den Anzug hatten sie mitgenommen, als sie kurz vor Kriegsausbruch von Coventry nach London gezogen waren; er gehörte zu den wenigen Erinnerungsstücken, von denen Jimmy sich nicht hatte trennen können. Und das war ein Glück, wie sich jetzt herausstellte – es war besser, Dolly nicht zu enttäuschen, wenn sie sich erst einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, vor allem in letzter Zeit. In den vergangenen Wochen hatte sich eine gewisse Distanz zwischen ihnen gebildet, seit ihre Familie bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen war. Wenn er versuchte, sie zu trösten, sie in die Arme zu nehmen, wich sie vor ihm zurück. Sie wollte auch nicht über den Tod ihrer Angehörigen reden, sondern lenkte das Gespräch lieber auf ihre Arbeitgeberin, von der sie neuerdings viel warmherziger sprach als anfangs. Natürlich freute Jimmy sich für sie, dass sie jemanden gefunden hatte, der ihr in ihrer Trauer beistehen konnte, er wünschte nur, er hätte derjenige sein können.
    Er schüttelte den Kopf. Wie egoistisch er doch war, sich so in Selbstmitleid zu ergehen, während Dolly versuchte, mit ihrem schrecklichen Verlust zurechtzukommen. Es war nur sehr untypisch für sie, dass sie sich derart verschloss; es war, als wäre die Sonne hinter dichten Wolken verschwunden, und er bekam einen Eindruck davon, wie kalt es auf der Welt sein würde, wenn er sie nicht mehr hätte. Deswegen war diese Sache heute Abend so wichtig. Der Brief, den sie ihm geschickt hatte, ihre Bitte, sich wie ein feiner Pinkel anzuziehen – zum ersten Mal seit dem Bombenangriff auf Coventry war sie wieder so lebhaft wie früher gewesen, und er wollte nicht riskieren, dass sich das wieder änderte. Jimmy überprüfte noch einmal seinen Anzug. Er konnte kaum glauben, dass er so eng saß. In diesem Anzug war sein Vater ihm immer wie ein Riese erschienen. Vielleicht war er ja doch nur ein ganz gewöhnlicher Mann gewesen.
    Jimmy setzte sich auf das schmale Bett mit der verschlissenen Tagesdecke und nahm seine Socken. Eine hatte ein Loch, das zu stopfen er sich schon seit Wochen vorgenommen hatte. Er verdrehte die Socke ein bisschen, sodass das Loch unter dem Fuß verschwand. Das musste für heute reichen. Er wackelte mit den Zehen, betrachtete seine blank polierten Schuhe, die neben dem Bett standen, und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Noch eine Stunde bis zu ihrer Verabredung. Er war viel zu früh dran. Kein Wunder, so aufgeregt, wie er war.
    Er zündete sich eine Zigarette an und legte sich aufs Bett, einen Arm unter dem Kopf. Er spürte etwas Hartes unter dem Kopfkissen und zog das Buch Von Mäusen und Menschen hervor. Es war das Buch aus der Bibliothek, das er im Sommer ’38 ausgeliehen hatte. Anstatt es zurückzubringen, hatte Jimmy vorgegeben, es verloren zu haben, und lieber die Strafgebühr bezahlt. Er mochte den Roman, aber das war nicht

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