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Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Titel: Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Morton
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hatte den Mantel, während sie in der Badewanne lag, zum Lüften aus dem Fenster gehängt und dann mit so viel Parfüm eingesprüht, wie sie hatte erübrigen können, und das Ergebnis war nicht schlecht. Bei dem Brandgeruch, der in diesen Tagen über der Stadt hing, war der Gestank nach Mottengift kaum noch wahrzunehmen. Sie zog den Gürtel fester, darauf bedacht, das Mottenloch an der Taille zu verbergen, und schüttelte sich. Sie war so schrecklich aufgeregt; und sie konnte es nicht erwarten, dass Jimmy sie sah. Sie rückte die Diamantenbrosche zurecht, die sie an den weichen Pelzkragen geheftet hatte, straffte die Schultern und zupfte ihre Locken zurecht, die sie im Nacken zusammengefasst hatte. Noch einmal tief Luft holen, dann trat sie aus dem Schatten – eine Prinzessin, eine reiche Erbin, eine junge Frau, der die ganze Welt zu Füßen lag.
    Es war kalt draußen, und Jimmy hatte sich gerade eine Zigarette angezündet, als er sie erblickte. Er musste zweimal hinsehen, um sich zu vergewissern, dass es Dolly war, die da auf ihn zukam – der elegante Mantel, die dunklen Locken, die im Mondlicht schimmerten, der beherzte Gang, das selbstbe wusste Klappern ihrer Absätze auf dem Asphalt. Sie war eine Erscheinung – so schön, so jung und so elegant. Jimmy blieb beinahe das Herz stehen. Sie war eindeutig erwachsener geworden, seit er sie das letzte Mal gesehen hatte. Mehr noch, als er ihre Haltung und ihre Eleganz wahrnahm, während er verlegen in dem alten Anzug seines Vaters von einem Fuß auf den anderen trat, wurde ihm klar, dass sie sich wirklich verändert hatte, und er wusste nicht, ob dies noch die Dolly war, die er kannte.
    Wortlos trat sie zu ihm. Jimmy hätte gern eine geistreiche Bemerkung gemacht, sich weltmännisch gegeben, hätte gern gesagt, wie hinreißend sie aussehe, und er wollte ihr von seinem beruflichen Erfolg berichten, davon, wie ihm sein Redakteur vorgeschwärmt hatte, dass vor Jimmy eine goldene Zukunft läge, »wenn erst dieser verdammte Krieg vorbei ist«, dass er sich einen Namen machen werde mit seinen Fotos und viel Geld verdienen könne. Aber ihre Schönheit, die in einem so krassen Widerspruch stand zum Krieg und all den Grausamkeiten, die zahllosen Nächte, in denen er sich vor dem Einschlafen ihre gemeinsame Zukunft ausgemalt hatte, und die Erinnerungen an Coventry und das Picknick am Strand – all das wühlte ihn so sehr auf, dass er kein Wort herausbrachte. Ihm gelang nur ein schwaches Lächeln, und dann, ohne einen weiteren Gedanken an all das zu verschwenden, legte er ihr eine Hand in den Nacken und küsste sie.
    Der Kuss war wie ein Startschuss. Dolly fühlte sich zugleich beruhigt und von freudiger Erwartung erfüllt. Die Pläne, die sie sich zurechtgelegt hatte, hatten die ganze Woche an ihren Nerven gezerrt, und jetzt, endlich, war es so weit. Dolly war beseelt von dem Gedanken, Jimmy zu beeindrucken, ihm zu zeigen, wie erwachsen sie geworden war, dass sie jetzt eine Frau von Welt war und nicht länger das Schulmädchen aus der Zeit, als sie sich kennenlernten. Sie brauchte eine Sekunde, um sich in ihre Rolle zu finden, ehe sie sich von ihm löste, um ihn anzuschauen. »Hallo«, hauchte sie auf eine Weise, wie Scarlett O’Hara es getan haben könnte.
    »Hallo.«
    »Welch eine Überraschung, Sie hier zu treffen.« Sie lächelte ihn gespielt verführerisch an und fuhr leicht mit den Fingern über sein Revers. »Noch dazu so elegant gekleidet.«
    Er zuckte die Schultern. »Dieser alte Anzug?«
    Dolly lächelte, unterdrückte jedoch ein Lachen (er brachte sie immer zum Lachen). »Also dann«, sagte sie und sah ihn durch ihre Wimpern hindurch an. »Ich denke, wir sollten uns auf den Weg machen. Wir haben heute Abend eine Menge vor, Mr. Metcalfe.«
    Sie hakte sich bei ihm ein, bemüht ihre Schritte zu zügeln, als sie die Charing Cross Road hinuntergingen, um sich in die lange Schlange vor dem 400 Club einzureihen, während im Osten Flugabwehrgeschütze zu hören waren und Suchscheinwerfer über den Himmel wanderten wie Himmelsleitern. Kurz bevor sie den Eingang erreichten, dröhnte ein Flugzeug über sie hinweg, aber Dolly schenkte ihm keine Beachtung; selbst ein Bombenangriff hätte sie nicht dazu bringen können, ihren Platz in der Schlange aufzugeben. Endlich gewährte man ihnen Einlass, und als sie oben auf der Treppe standen, drangen Musik, ausgelassene Stimmen und Gelächter zu ihnen hoch, und die wilde Energie, die ihnen entgegenschlug, machte Dolly so schwindlig,

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