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Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Titel: Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Morton
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der Grund, warum er das Buch behalten hatte. Jimmy war abergläubisch: Er hatte es an dem Tag am Strand bei sich gehabt, und er brauchte nur das Bild auf dem Umschlag zu betrachten, um die Erinnerung an diesen wunderbaren Tag heraufzubeschwören. Außerdem diente es als Schatzkästchen für seinen wertvollsten Besitz: Zwischen seinen Seiten, wo niemand nachsehen würde, befand sich das Foto, das er an jenem Tag von Dolly gemacht hatte. Jimmy fischte es heraus und glättete ein Eselsohr. Er zog an seiner Zigarette und blies langsam den Rauch aus, während er mit dem Daumen die Konturen ihres Kopfs, ihrer Schultern, ihrer Brüste nachzeichnete …
    »Jimmy?« In der Küche nebenan kramte sein Vater in der Besteckschublade herum. Eigentlich sollte Jimmy aufstehen und seinem Vater helfen. Doch er zögerte. Solange sein Vater nach was auch immer suchte, hatte er wenigstens etwas zu tun.
    Er konzentrierte sich wieder auf das Foto, das er schon unzählige Male betrachtet hatte. Er kannte jedes Detail darauf – die Art, wie Dolly sich eine Haarsträhne um einen Finger wickelte, wie sie ihr Kinn vorreckte, ihren herausfordernden Blick, der so typisch war für sie, die sich immer ein bisschen verwegener gab, als sie in Wirklichkeit war (»Etwas, was dich später an mich erinnert«? – Ein schöneres Andenken hätte sie ihm nicht schenken können); er konnte beinahe das Salz riechen und die Sonne auf seiner Haut fühlen, ihren Körper spüren, der sich ihm entgegengereckt hatte, als er sie ins Gras gedrückt und geküsst hatte …
    »Jimmy? Ich kann das … das Dings nicht finden, das …«
    Jimmy seufzte und ermahnte sich zur Geduld. »Ja, Dad«, rief er. »Ich komme gleich!« Er schenkte dem Foto ein betrübtes Lächeln – den Anblick von Dollys nackten Brüsten konnte er nicht genießen, wenn sein Vater im Nebenzimmer herumpolterte. Jimmy schob das Foto zurück ins Buch und setzte sich auf.
    Er schlüpfte in seine Schuhe, band sie zu, nahm die Zigarette aus dem Mund und schaute sich in seinem kleinen Zimmer um; seit Beginn des Kriegs arbeitete er pausenlos, und an den Wänden mit der verblichenen grünen Tapete hingen seine besten Aufnahmen. Da waren die Fotos, die er in Dünkirchen gemacht hatte von einer Gruppe Männer, die so erschöpft waren, dass sie kaum noch stehen konnten, einer wurde von zwei Kameraden gestützt, einer hatte einen dreckverschmierten Kopfverband, der ein Auge bedeckte, und alle blickten ausdruckslos vor sich auf den Boden, während sie weiterstapften und nur an den nächsten Schritt dachten. Da war das Foto von dem Soldaten, der barfuß am Strand schlief und seine zerbeulte Feldflasche umklammerte, als hinge sein Leben davon ab. Da waren die Fotos von den Schiffen und Booten, die aus der Luft angegriffen wurden, und von Männern, die meilenweit marschiert waren, nur um im Wasser beschossen zu werden, als sie versuchten, der Hölle zu entkommen.
    Dann die Fotos, die er seit Beginn der Bombardierung in London aufgenommen hatte. Jimmy stand auf, um die Fotos an der hinteren Wand näher zu betrachten. Die Familie im East End, die die Überreste ihrer Habe in einem Handkarren mit sich führte; die Frau in einer Kittelschürze beim Wäscheaufhängen in einer Küche, den Blicken der Öffentlichkeit preisgegeben, weil die vordere Hauswand fehlte; die Mutter, die im Luftschutzbunker ihren sechs Kindern Gutenachtgeschichten vorlas; der Plüschpanda, dem ein Bein fehlte; die Frau, die mit einer Decke um die Schultern auf einem Stuhl saß, hinter ihr eine Rauchwolke, wo vorher ihr Haus gestanden hatte; der alte Mann, der im Schutt nach seinem Hund suchte.
    Die Bilder verfolgten ihn. Manchmal kam es ihm so vor, als würde er den Menschen einen Teil ihrer Seele nehmen, wenn er sie fotografierte. Aber Jimmy hoffte, ihnen auch etwas zurückgeben zu können. Er ging eine Verbindung ein mit den Personen, die er fotografierte; sie schauten ihn von den Wänden seines Zimmers an, und er fühlte sich ihnen verpflichtet, nicht nur, weil er einen Moment lang Zeuge ihres Schicksals geworden war, sondern weil er sich dafür verantwortlich fühlte, ihre Geschichten bekannt zu machen. Immer wieder vermeldete die BBC Nachrichten wie: … dabei kamen drei Feuerwehrmänner, fünf Polizisten und hundertdreiundfünfzig Zivilisten ums Leben. Sachliche, neutrale Informationen, die das Grauen nicht einfingen, das Jimmy in der Nacht zuvor miterlebt hatte; und die Zeitungen druckten die gleichen knappen Sätze, und das war’s dann.

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