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Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Titel: Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Morton
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gesehen, der wie eine Dampflok schnaufte –, und sie hörten erst auf zu rennen, als sie die Litchfield Street überquert, sich unter die Menge gemischt hatten, die gerade aus dem St. Martin’s Theatre strömte, und in die schmale Tower Lane eingebogen waren. Dort ließen sie sich gegen eine Hauswand sinken und brachen in schallendes Gelächter aus.
    »Sein Gesicht …«, sagte Dolly japsend. »Das werde ich mein Lebtag nicht vergessen, Jimmy. Als du das mit dem Zug gesagt hast … du liebe Güte!«
    Jimmys Lachen klang warm und vertraut im Dunkeln. Es war stockfinster, wo sie standen; nicht einmal dem Vollmond gelang es, ein paar silberne Strahlen in die enge Gasse zu schicken. Dolly fühlte sich wie berauscht, voller Leben und Glück und der seltsamen Energie, die sie erfüllte, wenn sie eine andere Person verkörperte. Nichts beflügelte sie so sehr wie der Moment der Verwandlung, wenn sie aufhörte, Dolly Smitham zu sein und eine andere wurde. Welche Charaktereigenschaften genau die andere hatte, war nicht so wichtig; was sie erregte, war das Theater, die Freude an der Maskerade. Es war, als würde sie in die Haut eines anderen Menschen schlüpfen. Als würde sie sein Leben für eine Weile stehlen.
    Dolly schaute in den Sternenhimmel auf. Seit der Verdunkelung konnte man so viel mehr Sterne sehen; das war mit das Schönste am Krieg. Aus der Ferne waren dumpfe Explosionen zu hören, das Rattern von Flugabwehrgeschützen; aber dort oben funkelten die Sterne, was das Zeug hielt. Sie waren wie Jimmy, dachte sie, treu, beständig, zuverlässig. Eigenschaften, auf die man vertrauen konnte.
    »Du würdest wirklich alles für mich tun, nicht wahr?«, sagte sie mit einem zufriedenen Seufzer.
    »Das weißt du doch.«
    Jetzt lachte er nicht mehr, und plötzlich schlug die Stimmung in der engen Gasse um. Das weißt du doch . Ja, sie wusste es, und die Erkenntnis war zugleich aufregend und beängstigend. Oder vielmehr, ihre Reaktion auf die Erkenntnis. Als sie ihn das sagen hörte, regte sich etwas tief in ihrem Innern. Sie zitterte. Ohne nachzudenken nahm sie im Dunkeln seine Hand.
    Sie war warm, weich und groß, und Dolly hob sie an und hauchte einen Kuss darauf. Sie fühlte sich mutig, schön und lebendig. Mit klopfendem Herzen legte sie Jimmys Hand auf ihre Brust.
    Ein Seufzer entfuhr ihm. »Doll …«
    Sie brachte ihn mit einem zärtlichen Kuss zum Schweigen. Sie wollte nicht, dass er etwas sagte, nicht jetzt; sonst würde sie vielleicht der Mut verlassen. Sie rief sich alles in Erinnerung, was Kitty und Louisa einander kichernd in der Küche von Lady Gwendolyns Villa erzählt hatten, und tastete nach seinem Gürtel. Dann ließ sie die Hand weiter nach unten gleiten.
    Jimmy stöhnte auf und beugte sich vor, um sie zu küssen, doch sie wandte ihr Gesicht ab und flüsterte ihm ins Ohr: »Hast du gesagt, du würdest alles für mich tun?«
    Er nickte. »Ja.«
    »Dann solltest du jetzt ein armes, hilfloses Mädchen nach Hause begleiten und zu Bett bringen.«
    Jimmy saß noch lange wach, nachdem Dolly eingeschlafen war. Die Nacht war berauschend gewesen, und er wollte sie noch ein bisschen auskosten. Nichts sollte den Bann brechen. In der Nähe explodierte eine schwere Bombe, sodass die Bilderrahmen an den Wänden wackelten. Dolly rührte sich im Schlaf, und Jimmy legte ihr zärtlich eine Hand auf den Kopf.
    Sie hatten kaum geredet auf dem Heimweg, viel zu sehr war ihnen beiden die Bedeutung von Dollys Worten bewusst gewesen und die Tatsache, dass sie eine Grenze überschritten hatten und sich auf einem Kurs befanden, der unumkehrbar war. Er war noch nie in dem Haus gewesen, wo sie wohnte und arbeitete; in dieser Hinsicht war Dolly immer eigen gewesen. Die alte Dame habe, was Herrenbesuch angehe, sehr klare Vorstellungen, hatte sie gesagt, und Jimmy hatte das respektiert.
    Vor dem Haus Nr. 7 angekommen, hatte sie ihn an den Sandsäcken vorbei durch die Haustür geführt, die sie ganz leise hinter sich geschlossen hatte. Wegen der dicken Vorhänge war es dunkel im Haus, noch dunkler als draußen, und Jimmy wäre beinahe über eine Bodenvase gestolpert, bis Dolly eine kleine Tischlampe am Fuß der Treppe eingeschaltet hatte. Im schwachen Schein der Glühbirne, der den Teppich und die Wand erleuchtete, hatte Jimmy zum ersten Mal gesehen, wie vornehm das Haus war, in dem Dolly wohnte. Aber ihm blieb keine Zeit zum Staunen, und es war ihm nur recht, denn die ganze Pracht irritierte ihn. Sie erinnerte ihn an all das, was er ihr

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