Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
womöglich gar nichts mit dem Tod ihrer Familie zu tun hatte, sondern mit dieser Vivien, der reichen Dame aus dem Haus gegenüber. Wahrscheinlich hatte es gar nichts zu bedeuten – Dolly tat gern geheimnistuerisch, so war nun einmal ihre Art. Und was für eine Rolle spielte es überhaupt, hier und jetzt, solange die Musik immer weiterspielte?
Das tat sie natürlich nicht, nichts dauert ewig, und plötzlich war das Stück einfach zu Ende. Jimmy und Dolly lösten sich voneinander, um Beifall zu klatschen, und da bemerkte Jimmy den Mann mit dem dünnen Schnurrbart, der sie vom Rand der Tanzfläche aus beobachtete. Das allein hätte ihn noch nicht weiter beunruhigt, aber der Mann unterhielt sich mit Rossi, der sich mit der einen Hand am Kopf kratzte und mit der anderen theatralisch gestikulierte, während er in irgendeiner Liste etwas suchte.
Eine Gästeliste, schoss es Jimmy durch den Kopf. Was sonst?
Zeit, diskret von der Bildfläche zu verschwinden. Jimmy nahm Dolly an der Hand und machte Anstalten, sie von der Tanzfläche zu ziehen, so lässig wie möglich. Wenn sie sich schnell und unauffällig bewegten, könnten sie unter der roten Kordel hindurchschlüpfen, sich unter die Menge auf der anderen Seite mischen und sich still und heimlich verdrücken, ohne dass es jemandem auffiel.
Leider hatte Dolly andere Pläne; jetzt wo sie es auf die Tanzfläche geschafft hatte, war sie nicht bereit, sie so schnell wieder zu verlassen. »Nein, Jimmy«, flüsterte sie. »Hör doch, sie spielen ›Moonlight Serenade‹!«
Jimmy wollte es ihr erklären und sah sich noch einmal nach dem Mann mit dem Schnurrbart um, nur um festzustellen, dass er bereits auf sie zugestürmt kam, eine Zigarre zwischen die Zähne geklemmt, die rechte Hand ausgestreckt. »Lord Sandbrook«, sagte der Fremde mit dem breiten, selbstbewussten Grinsen eines Mannes, der säckeweise Geld unter der Matratze gebunkert hatte. »Freut mich, dass Sie kommen konnten, alter Knabe.«
»Lord Dumphee«, versuchte Jimmy sein Glück. »Meine Glückwünsche für Sie und Ihre … Ihre Verlobte. Großartige Party.«
»Tja, ich hätte lieber im kleinen Kreis gefeiert, aber Sie kennen ja Eva.«
»In der Tat.« Jimmy lachte nervös.
Lord Dumphee paffte seine Zigarre, dass sie wie eine Loko motive qualmte; seine Augen wurden schmal, und Jimmy wurde klar, dass sein Gastgeber ebenfalls in Verlegenheit war und fieberhaft versuchte, seinen mysteriösen Gast einzuordnen. »Sie sind also mit meiner Verlobten befreundet«, sagte er.
»Ganz recht.«
Lord Dumphee nickte. »Selbstverständlich, selbstverständlich.« Dann paffte er wieder an seiner Zigarre, und als Jimmy gerade dachte, sie hätten es überstanden, sagte Lord Dumphee: »Es muss an meinem miserablen Gedächtnis liegen – der Krieg und all die verdammten schlaflosen Nächte machen es noch schlimmer –, aber ich kann mich nicht erinnern, dass Eva jemals einen Sandbrook erwähnt hätte. Sind Sie alte Freunde?«
»O ja. Ava und ich kennen uns schon ewig.«
»Eva.«
»Genau.« Jimmy wandte sich Hilfe suchend an Dolly. »Darf ich Ihnen meine Gattin vorstellen, Lord Dumphee, äh …«
»Viola«, sagte Dolly mit einem kühlen Lächeln. »Viola Sandbrook.« Sie hob eine Hand, und Lord Dumphee nahm seine Zigarre aus dem Mund, um sie zu küssen. Dann richtete er sich auf, ohne die Hand loszulassen, und musterte Dolly von oben bis unten mit lüsternem Blick.
»Darling!«, trällerte eine Frauenstimme vom Rand der Tanzfläche. »Jonathan!«
Lord Dumphee ließ Dollys Hand fallen wie eine heiße Kartoffel. »Oh«, sagte er mit roten Ohren wie ein Schuljunge, der von seinem Kindermädchen mit frivolen Postkarten erwischt worden war. »Da kommt Eva.«
»Gott, ist es schon so spät?«, sagte Jimmy. Er nahm Dollys Hand und drückte sie fest, um ihr zu signalisieren, was er vorhatte. Sie drückte zurück. »Verzeihen Sie, Lord Dumphee«, sagte er. »Meine herzlichsten Glückwünsche, aber Viola und ich müssen unseren Zug bekommen.«
Mit diesen Worten flitzten sie los. Dolly konnte kaum ihr Lachen unterdrücken, während sie sich durch den überfüllten Nachtklub arbeiteten, an der Garderobe kurz anhielten, damit Jimmy die Marke abgeben und Lady Gwendolyns Mantel entgegennehmen konnte, und dann, zwei Stufen auf einmal neh mend, die Treppe hoch und hinaus in die kühle Londoner Nacht luft flüchteten.
Jemand war ihnen im 400 Club gefolgt, als sie davoneilten – Dolly hatte sich kurz umgedreht und einen rotgesichtigen Mann
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