Die Verlorenen von New York
auszurutschen. Wenn man für ein Zehntausend-Dollar-Gewinnlos eine Dose Ananas bekam, was war dann wohl ein Ehering wert?
Alex wusste hinterher nicht mehr, was ihn zuerst stutzig gemacht hatte: das merkwürdige Krachen oder das komische Geräusch, das Kevin von sich gab, oder erst die darauf folgende Stille. Irgendetwas veranlasste ihn jedenfalls, stehen zu bleiben und sich umzudrehen.
Hätte er das bloß nicht getan. Wäre er doch einfach weitergestapft, weiter auf die Leiche zu, deren Ehering seiner Familie vielleicht zu einer Dose Pfirsiche verhelfen würde. Wäre er doch einfach weitergelaufen, immer weiter, raus aus New York, bis an irgendeinen warmen, sicheren Ort.
Stattdessen wandte er sich um und sah Kevin auf dem Gehweg liegen, einen dicken, eisverkrusteten Ast im Nacken, der ihn zu Boden drückte.
Alex kehrte in seinen Fußstapfen um. Kevin lag mit dem Gesicht nach unten und Alex’ erster Gedanke war, dass er im Schnee ersticken würde. Er versuchte, den Ast anzuheben, aber der war zu groß und zu schwer. Alex hob den Blick und sah die frische Scharte im Stamm, wo der Ast abgebrochen war.
»Hilfe!«, schrie Alex. »Zu Hilfe!«
Aber es kam natürlich niemand. Als Julie vor ein paar Wochen um Hilfe gerufen hatte, war auch niemand gekommen. New York war inzwischen mehr tot als lebendig, und die wenigen Menschen, die noch übrig waren, halfen niemandem mehr außer sich selbst.
Kevins Kopf war seltsam verdreht und Alex konnte sein rechtes Auge sehen, das eher verblüfft als ängstlich oder tot dreinsah. Er zog die Handschuhe aus und versuchte, Kevins Puls zu finden. Dann entschied er, dass das Zeitverschwendung war; als Allererstes musste er Kevin unter diesem Ast hervorholen. Und wenn er ihn nicht anheben konnte, musste er Kevin eben ausgraben. In fieberhafter Eile fing er an, den verharschten Schnee unter Kevins Kopf und Körper wegzuscharren. Kevin atmete nicht, und Alex wollte ihm den Schal vom Gesicht ziehen. Der hatte sich jedoch in den Zweigen verfangen, und als Alex daran zerrte, ruckte Kevins Kopf plötzlich in die Höhe. Entsetzt stieß Alex einen Schrei aus, und im gleichen Moment begriff er, dass der einzige Freund, den er je gehabt hatte, tatsächlich tot war. Denn wäre er noch am Leben gewesen, und sei es auch nur für einen letzten Atemzug, hätte er über diesen gelungenen Scherz mit Sicherheit gelacht.
Alex grub trotzdem weiter, bis die Mulde tief genug war. Dann packte er Kevin unter den Armen und zog. Es überstieg beinahe seine Kräfte, aber schließlich bekam er ihn frei.
Alex’ Herz klopfte wie verrückt, aber er hätte nicht sagen können, ob das von der Anstrengung kam oder davon, dass er Kevin dort liegen sah. War ja auch egal. Vorsichtig drehte er Kevin auf den Rücken.
Er fühlte ihm wieder den Puls. Er legte sein Ohr dicht an Kevins Mund. Dann presste er ihm die Hände auf den Brustkorb, in einem halbherzigen Wiederbelebungsversuch.
»Wach auf!«, schrie er Kevin an. »Bitte mach, dass er aufwacht!«, schrie er Gott an.
Kevins Augen starrten in den Himmel. Er hatte die Lippen ein wenig verzogen, fast wie zu einem Lächeln, und rotes Blut, das ihm aus Mund und Nase getropft war, bildete den letzten Farbtupfer in ganz New York.
Lieber Gott, betete Alex. Sei seiner Seele gnädig. Die Hälfte von dem, was er gesagt hat, war nicht so gemeint.
Während Kevin weiter gen Himmel starrte, nahm Alex ihm die Armbanduhr ab, die er Kevins Eltern bringen wollte. Dann fiel ihm ein, dass er gar nicht wusste, wo sie wohnten. Er kannte weder die Adresse der ZWE noch die der Firma von Kevins Vater.
Es war unwahrscheinlich, dass Kevin einen Personalausweis dabei hatte, geschweige denn einen mit aktueller Adresse, aber Alex wollte nichts unversucht lassen. Er atmete tief durch und durchsuchte fast schon mit schlechtem Gewissen Kevins Taschen. Aber er fand nur die Pistole.
Er erkannte sie sofort, es war dieselbe, die sie damals bei ihrem ersten gemeinsamen Leichen-Shopping gefunden hatten. Komische Vorstellung, dass Kevin sie die ganze Zeit mit sich herumgetragen hatte, ohne dass Alex davon wusste. Er kannte Kevin besser als die meisten anderen Menschen in seinem Leben, aber offenbar nicht annähernd so gut, wie er gedacht hatte.
Alex öffnete seinen Mantel ein Stück und fummelte an der Halskette mit dem Kreuz herum, die er immer um den Hals trug. Seine Hände zitterten so sehr, dass es einen Moment dauerte, bis er die Schließe aufbekam, aber als es ihm endlich gelang, küsste er das
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