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Die Verlorenen von New York

Die Verlorenen von New York

Titel: Die Verlorenen von New York Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susan Beth Pfeffer
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der Schnee draußen lag noch höher, als er vermutet hatte.
    Während er zum Büro seines Vaters lief, um Schneeschieber und Streusalz zu holen, verwünschte er sich dafür, dass er nicht erst noch eine Kleinigkeit gegessen hatte. Schneeräumen war schon anstrengend genug, auch ohne die Tatsache, dass er seit zwanzig Stunden nichts mehr im Magen hatte.
    Die Vorstellung, die zwölf Stockwerke wieder hochzulaufen, nur um sich dort ein bisschen kalten Reis mit Bohnen in den Mund zu schaufeln, war allerdings auch nicht gerade verlockend. Er musste es eben irgendwie schaffen.
    Schneeschieber und Streusalz fanden sich noch am alten Platz. Von allen Hausmeisterpflichten hatte sein Vater das Schneeräumen am wenigsten gemocht, deswegen hatte er diese Arbeit häufig Carlos oder Alex aufgebürdet. Im vorigen Winter hatte es viel geschneit, und Alex konnte sich noch gut erinnern, wie sein Vater ihn ein halbes Dutzend Mal in aller Herrgottsfrühe geweckt hatte, damit der Schnee geräumt war, bevor die ersten Nachbarn das Haus verließen. Und er hatte ihm immer die Hölle heißgemacht, wenn noch irgendwo auch nur der kleinste Schneerest herumlag, obwohl doch noch so viele Leute darüberlaufen würden, dass spätestens bis Mittag alles weggetaut wäre.
    Alex versuchte, den Schieber und den Zehnkilosack Salz gleichzeitig zu tragen, schaffte es aber nicht. Also ließ er den Sack im Gang stehen und nahm nur den Schieber mit nach oben. Er konnte fast hören, wie sein Vater ihn für seine Schwäche auslachte, und nutzte den Zorn und die Verbitterung dazu, die notwendige Energie fürs Schneeräumen freizusetzen.
    Und die Arbeit war wirklich brutal. Der Schnee war feucht und schwer, noch dazu mit der Eisschicht dazwischen, und jede Schaufelbewegung erforderte seine ganze Kraft. Dass er zusammen mit dem Schnee auch immer wieder die Kadaver erfrorener Ratten wegschaufeln musste, machte die Sache nicht gerade besser. Schon bald musste er nach jeder Schaufelbewegung eine Verschnaufpause einlegen. Er war wirklich ein blanducho , wie sein Vater immer sagte.
    Eine halbe Stunde später hatte er schließlich so viel Schnee weggeräumt, dass er vor der Haustür stehen und begutachten konnte, was noch zu tun war. Gar nicht so viel, fand er. Er musste nur noch den Zugang zum Fußweg freischaufeln, dann die 88 th Street entlang bis zur West End Avenue, von dort bis zum Columbus Circle, rüber zur 8 th Avenue und die dann runter bis zur 42 nd Street, wo der Busbahnhof war. Wahrscheinlich noch nicht einmal so weit. Wenn die Reichen und Mächtigen so schlau gewesen waren, ein paar Leute hierzubehalten, die den Dreck für sie wegmachen würden, wäre ab Columbus Circle bestimmt schon alles geräumt. Er müsste also höchstens zwei Kilometer selber freischaufeln. Ein Kinderspiel für einen Level 12 .
    Aber er hatte immer noch keine Ahnung, wie Bri diese ganze Strecke bis nach downtown schaffen sollte. Ohne Hilfe käme sie wohl nicht einmal bis zum Broadway.
    Da er nicht wusste, was er sonst tun sollte, machte Alex sich daran, den Weg bis zur Straße freizuschaufeln. An die Stille hatte er sich inzwischen gewöhnt, aber abgesehen vom Heulen des Windes kam es ihm heute noch stiller vor als sonst. Anscheinend war der ganze Block verlassen. Vielleicht waren Bri, Julie und er die letzten lebenden Bewohner der West 88 th Street. Wenn sie fortgingen, wäre niemand mehr übrig.
    Er machte eine Pause und stützte sich auf den Schneeschieber. Er hätte Bri niemals ins Kloster schicken dürfen. Das war schon der erste Fehler gewesen. Hätte er sie nicht dort hingeschickt, wäre sie mit Onkel Jimmy und Tante Lorraine fortgegangen und hätte womöglich nie Asthma bekommen. Und sobald Bri in Sicherheit gewesen wäre, hätte er auch für Julie einen sicheren Ort suchen können. Vielleicht nicht innerhalb der familia , aber im Juni war die Lage noch längst nicht so verzweifelt gewesen, da hätte er bestimmt noch jemanden gefunden, dem er Julie hätte anvertrauen können.
    Und wenn er nicht wegen seiner Schwestern hier festgesessen hätte, wäre er selbst sicher auch längst aus New York abgehauen und hätte sein Glück woanders versucht. Vielleicht hätte er Carlos ausfindig gemacht und sich ebenfalls zu den Marines gemeldet. Carlos war bestimmt irgendwo, wo es warm war, wo es drei Mahlzeiten am Tag gab und ein richtiges Bett. Der hatte es gut.
    Alex hätte am liebsten laut gebrüllt. Jede seiner Entscheidungen war falsch gewesen, und seinetwegen war jetzt das Leben

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