Die Verlorenen von New York
in diesem Teil der Stadt würde garantiert nicht geräumt.
Er musterte Bri, oder vielmehr das, was trotz Skimaske und Winterkleidung noch von ihr zu sehen war. Wie viel mochte sie wiegen? Er hatte sich letzte Woche dummerweise gewogen und festgestellt, dass er nur noch fünfzig Kilo wog. Bri wog wahrscheinlich noch um die fünfundvierzig Kilo, aber trotzdem könnte er sie nie und nimmer mehrere Kilometer weit tragen.
Und wenn er so etwas wie eine Trage bauen würde, bei der Julie mit anfassen konnte? Er schaute seine jüngste Schwester an, die immer noch aus dem Fenster sah, gebannt vom Anblick des Schnees. Sie wog sicher kaum mehr als fünfunddreißig Kilo, auch wenn sie immer noch ziemlich fit wirkte und in letzter Zeit auch besser die Treppen hochkam als er. Trotzdem durfte er nicht einfach davon ausgehen, dass sie es schaffen würde, diese Last über eine so lange Strecke mit ihm zu teilen.
Und wenn sie Bri auf einer Matratze hinter sich herzögen? Aber die Matratze würde sich mit Wasser vollsaugen, und es wäre nicht gut für Bri, bei dieser Kälte stundenlang auf einer nassen Matratze zu liegen. Außerdem würde die Matratze durch die Nässe immer schwerer und damit auch immer schwerer zu ziehen.
Wieso tat Gott ihnen das an? Was hatten sie verbrochen, dass sie eine solche Strafe verdienten?
»Ich find’s nicht schlimm, dass er grau ist«, sagte Bri gerade. »Er sieht trotzdem schön aus. Und außerdem verdeckt er die ganzen Leichen, siehst du?«
»Prima«, sagte Julie. »Da werden die Ratten aber ganz schön angepisst sein.«
»Bitte keine Kraftausdrücke«, sagte Alex automatisch, musste dann aber doch lachen.
Bescheidenheit, ermahnte er sich. Gott hatte ihn nicht auserwählt. Wenn er auf Christus vertraute und das, was ihm an grauen Zellen geblieben war, mal ordentlich anstrengte, würde ihm bestimmt eine Lösung einfallen. Denn irgendeine Lösung musste es geben. Musste es einfach. Musste es.
Sonntag, 4 . Dezember
»Nun komm schon«, sagte Bri und ging ins Wohnzimmer, um Alex wach zu rütteln. »Heute ist Sonntag. Sonst verpassen wir noch die Messe.«
»Leg dich wieder hin«, sagte Alex. »Wenn du da rumstehst, wird dir kalt.«
»Mir ist überhaupt nicht kalt«, sagte Bri. »Außerdem ist die Kirche geheizt. Bitte, Alex. Steh auf, und dann wecke ich Julie.«
Widerwillig kletterte Alex aus dem Schlafsack und ging zum Fenster. Er zog die Decke beiseite und winkte Bri zu sich.
»Guck doch mal raus«, sagte er. »Da liegt Schnee und darüber eine Eisschicht und darüber wieder Schnee. Wie zum Teufel sollen wir da zur Kirche kommen?«
»Das geht schon«, sagte Bri. »Ich werde euch nicht aufhalten, versprochen.«
»Nein«, sagte Alex. »Vielleicht nächsten Sonntag, wenn der Schnee bis dahin verschwunden ist. Aber heute nicht.«
Bri brach in Tränen aus.
»Was denn?«, fragte Alex und versuchte, die Gereiztheit aus seiner Stimme herauszuhalten. »Ist doch nur ein Sonntag. Gott wird schon Verständnis dafür haben.«
Bri schüttelte den Kopf. »Darum geht’s nicht«, sagte sie. »Ich weiß, dass Christus uns vergeben wird, wenn wir heute nicht zur Kirche gehen.« Sie atmete einmal tief durch. »Entschuldige«, sagte sie dann. »Ich weiß, dass ich nicht die Einzige bin, die’s schwer hat. Aber ich fühle mich hier so eingesperrt. Sonntag ist der einzige Tag, an dem ich mal rauskomme. Gott hat sicher schon gemerkt, dass meine Beweggründe selbstsüchtig waren. Ich werde Ihn um Vergebung bitten.«
»Weißt du was?«, sagte Alex. »Du gehst jetzt wieder ins Bett und schläfst noch ein bisschen, und heute Nachmittag beten wir alle zusammen um Gottes Vergebung.«
Bri kicherte. »Julie wird begeistert sein«, sagte sie. »Aber danke, dass du das verstehst, Alex.«
»Ich versuch’s jedenfalls«, sagte Alex. »Und jetzt ab mit dir. Mag sein, dass dir nicht kalt ist, aber ich erfriere gleich.«
Bri gab ihrem Bruder rasch einen Kuss. »Bis später«, sagte sie und ging in ihr Zimmer zurück.
Alex starrte noch einen Moment lang nach draußen. Ungefähr dreißig Zentimeter Schnee, nahm er an, mit einer fingerdicken Eisschicht dazwischen. Bri fühlte sich zu Recht eingesperrt.
Er zog sich rasch an, legte seinen Schwestern einen Zettel hin, dass er sich draußen ein bisschen umsehen wollte, und stieg dann die zwölf Stockwerke hinunter. Runter ging leichter als hoch, aber er war trotzdem außer Atem, als er unten ankam.
Die Haustür ging nach innen auf, die ließ sich also problemlos öffnen. Aber
Weitere Kostenlose Bücher