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Die Verlorenen von New York

Die Verlorenen von New York

Titel: Die Verlorenen von New York Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susan Beth Pfeffer
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seiner Schwestern in Gefahr.
    Er fiel auf die Knie, ohne auf die eisige Feuchtigkeit zu achten, die durch die Hosenbeine drang, und flehte zu Gott, er möge seinen Schwestern gnädig sein.
    »Alex?«
    Er fuhr herum und sah Julie in der Haustür stehen.
    »Was ist?«, fragte er.
    »Bri hat gesagt, ich soll dich holen«, meinte sie. »Sie macht sich Sorgen.«
    Alex stand auf. Er kam sich albern vor. »Sag ihr, es ist alles in Ordnung«, antwortete er. »Ich komm gleich hoch. Ich muss nur noch den Fußweg freiräumen.«
    »Musst du doch gar nicht«, wandte Julie ein. »Hier wohnt doch keiner mehr außer uns.«
    »Ich weiß«, sagte Alex. »Aber Papá hätte es von mir erwartet.«

 
    SECHZEHN
    Montag, 5 . Dezember
    Alex beschloss, maximal fünfzehn Minuten auf Kevin zu warten, bevor er wieder ins Haus ging. Wäre die Wohnung auch nur ein bisschen geheizt gewesen, hätte er höchstens fünf Minuten in der Kälte ausgeharrt, aber da es drinnen auch nicht viel wärmer war als draußen, entschied er sich für fünfzehn.
    Die Fünf-Minuten-Frist hätte jedoch vollkommen gereicht, denn um drei Minuten nach sieben war Kevin da.
    »Du bist echt verrückt«, sagte Alex. »Wie hast du es überhaupt geschafft hierherzukommen?«
    »So schlimm war’s gar nicht«, erklärte Kevin. »Bei uns ist sogar ein bisschen geräumt worden.« Er musterte den Gehweg vor ihnen. »Gute Arbeit«, sagte er. »Habt ihr einen kleinen Jungen, der das für ein Taschengeld macht?«
    »Schön wär’s«, sagte Alex. »Glaubst du wirklich, dass wir heute was finden?«
    »Sonst wäre ich nicht hier«, sagte Kevin. »Heute dürfte die Ausbeute sogar besonders gut werden. Jede Menge frische Leichen rund um den Park. Einige davon Selbstmorde – der Schneesturm hat ihnen vermutlich den Rest gegeben. Aber auch so sterben die Leute gerade wieder in Scharen. Einer der Ärzte in unserer ZWE hat gesagt, im Moment ist eine ganz üble Grippe im Umlauf.«
    »Super«, sagte Alex. »Das hat uns gerade noch gefehlt.«
    Kevin lachte. »Sei froh, dass es nicht die Pest ist«, sagte er. »Und Harvey hat übrigens erwähnt, dass die Nachfrage für Schmuck enorm gestiegen ist. Wir sollten also verstärkt auf Eheringe, Verlobungsringe, Ohrringe und so was achten. Offenbar haben sie inzwischen gemerkt, dass die Minen fürs Erste stillgelegt sind.«
    Alex war es zuwider, den Toten ihre Eheringe abzunehmen, aber für diese eine Woche brauchten sie unbedingt noch Lebensmittel. Vor ihrer Abreise würde er Kevin eine Nachricht zukommen lassen, damit er sich keine Sorgen machte. Bestimmt würde der auch bald von hier weggehen, vielleicht sogar in die gleiche Stadt wie Alex.
    Alex trat in die Fußstapfen, die Kevin gemacht hatte. Es waren die einzigen weit und breit. Falls noch andere Menschen in der Upper West Side lebten, hatten sie seit Samstag jedenfalls nicht mehr ihre Wohnungen verlassen.
    Das Laufen war anstrengend, und auf ihrem Weg zum Park blieben die Jungen meist jeder für sich. Wäre der Schnee weiß gewesen, hätte die Stadt wunderschön ausgesehen. Aber so war alles leichengrau. Egal, wohin es Alex am Ende verschlagen würde, New York würde er jedenfalls nicht vermissen. Kevin würde ihm bestimmt fehlen, und die Schule und die Kirche und sogar Pater Mulrooney, aber das war’s dann auch. Überall war es besser als hier.
    Er dachte an Chris Flynn in South Carolina. Vielleicht war es dort warm, oder zumindest wärmer als hier. Falls es immer noch Colleges gab, würde Chris mit Sicherheit eines finden. Noch vor einem Jahr wäre er ausgerastet bei dem Gedanken, Chris könnte eine gute Universität besuchen, während er selbst nicht einmal wusste, ob er überhaupt je studieren würde. Aber jetzt war das auf einmal gar nicht mehr wichtig.
    »Denkst du noch manchmal an Chris?«, fragte er Kevin.
    »Muhmuhmmum«, antwortete Kevin. Er hatte sich den Schal um die untere Gesichtshälfte geschlungen, und der Wind heulte so laut die Central Park West hinunter, dass er unmöglich zu verstehen war.
    Nicht, dass es eine Rolle gespielt hätte. Chris hatte sein eigenes Leben und Kevin auch. Für Alex zählte jetzt nur noch, sich und seine Schwestern irgendwo in Sicherheit zu bringen.
    Er hob den Blick und hatte den Eindruck, dass ungefähr einen Block entfernt eine Leiche im Schnee lag. Und glitzerte da nicht auch ein Ring? Vielleicht kein Suizid, sondern ein Grippozid, dachte er und musste lachen. Er stapfte weiter und versuchte, in dem knietiefen, verharschten Schnee nicht

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