Die Verlorenen von New York
verzweifelt nach Luft.
Während sich Alex das Blut aus dem Gesicht wischte, wühlte Julie in Bris Rucksack herum, bis sie schließlich ihren Rosenkranz fand. Sie reichte ihn ihrer Schwester, die danach griff wie nach einer Rettungsleine.
»Dios te salve, María. Llena eres de gracia« , fing Julie an. Als Bri die vertrauten Worte des Ave-Maria hörte, auf Spanisch, wie Mamá es immer gesprochen hatte, wurde ihr Atem ruhiger, und sobald sie dazu in der Lage war, rezitierte sie mit Julie gemeinsam, während Alex danebenstand und sich vornahm, seine kleine Schwester nie wieder zu unterschätzen.
Als sie sich Port Authority näherten, wurde der Marsch wieder etwas leichter, und Alex schöpfte wieder Hoffnung, dass sie es doch noch schaffen würden. Auf der 8 th Avenue begegnete ihnen eine Handvoll Leute, und wenn ihnen auch niemand Hilfe anbot, so wurden sie doch zumindest nicht beschimpft. Viele Leichen lagen auf den Straßen, die meisten offenbar noch nicht lange tot. Grippozide, vermutete Alex. Dort, wo sie hinfuhren, würde er dieses Wort nicht mehr brauchen.
Alex war das letzte Mal im Mai am Busbahnhof gewesen, und damals hatte es nur so gewimmelt von hysterischen Menschen auf der Flucht. Heute jedoch war alles leer und verlassen. Er war überrascht, dass er sonst keine Leute sah, die zum Konvoi wollten, aber vielleicht nahmen die alle einen anderen Eingang oder waren schon drin. Um auf seine Armbanduhr schauen zu können, hätte er Bri auf seine andere Schulter verfrachten müssen, und so fragte er Julie, wie spät es war. Sie blieb stehen.
»Viertel nach zehn«, sagte sie.
»Dann sind wir wohl die Ersten«, sagte Alex. »Das ist gut, dann können wir uns die Plätze aussuchen.«
»Da steht ein Polizist!«, rief Julie und wies auf das Gebäude. »Der kann uns sagen, wo wir hinmüssen.«
Alex setzte Bri behutsam ab und lief zu dem Polizisten hinüber. »Wir haben Passierscheine für den Konvoi aus der Stadt«, sagte er zu dem Mann. »Wissen Sie, welchen Eingang wir dafür nehmen müssen?«
»Heute fährt kein Konvoi«, sagte der Polizist.
»Was soll das heißen?«, fragte Alex. »Der Konvoi am 12 . Dezember. Wir haben Passierscheine und Reservierungen.« Einen Moment lang erfasste ihn die Panik, es könnte vielleicht schon der 13 . sein und sie hätten den Konvoi um einen Tag verpasst. »Heute ist doch der 12 ., oder?«, fragte er, ohne die Angst in seiner Stimme unterdrücken zu können.
»Das Datum spielt keine Rolle«, erklärte der Polizist. »Es fahren keine Konvois mehr, wegen der Quarantäne.«
»Was für eine Quarantäne?«, fragte Alex. »Wovon reden Sie?«
Der Polizist schaute Alex an, dann Bri und Julie und den Schlitten. »Hat euch das keiner gesagt?«, fragte er, und Alex hörte das Mitleid in seiner Stimme.
»Was denn?« Alex wusste schon, dass ihm die Antwort nicht gefallen würde.
»New York City steht unter Quarantäne, wegen der Grippe«, erklärte der Polizist. »Niemand darf mehr rein oder raus.«
»Und bis wann?«, fragte Alex. »Wie lange gilt das?«
Der Polizist zuckte die Achseln. »Bis sie vorbei ist«, sagte er. »Oder bis auch jeder auf dem Land sie bekommen hat. Oder bis wir alle daran gestorben sind. Such dir was aus.«
»Wissen Sie über die Konvois Bescheid?«, fragte Alex. »Gibt es irgendwann wieder einen? Und werden wir darüber informiert?«
»Ich weiß alles über die Konvois«, antwortete der Polizist. »Ich weiß alles über die Glücklichen, die da mitfahren dürfen. Natürlich gibt es wieder einen. Alle zwei Wochen fährt einer los und wenn dieser hier ausfällt, dann nehmt ihr eben den nächsten. Wenn die Quarantäne zwischenzeitlich aufgehoben wird, könnt ihr in zwei Wochen wiederkommen. Wenn nicht, in vier Wochen. Für Leute wie euch gibt’s doch immer einen Ausweg.«
Alex hätte am liebsten gelacht, aber er wusste, wenn er damit anfing, würde er nicht mehr aufhören können. Stattdessen dachte er an den nächsten Konvoi. In zwei Wochen war der 26 . Dezember. So kurz vor Weihnachten ließe Christus sie doch bestimmt nicht verhungern. Alex würde seine Schwestern noch zwei weitere Wochen am Leben erhalten und dann würden die Konvois wieder fahren. Er selbst wäre dann schon achtzehn und dürfte nicht mehr mit, aber das war nicht so schlimm. In den Bussen gäbe es sicher viele Frauen und Kinder, und eine der Mütter wäre bestimmt bereit, sich um Bri und Julie zu kümmern, bis die beiden in Sicherheit waren. Irgendjemand wäre bestimmt so
Weitere Kostenlose Bücher