Die Verlorenen von New York
den Schlitten nach oben und wurde mit großer Begeisterung und Bewunderung empfangen. Er stellte den Schlitten auf die Straße und ging wieder hinein, um Bri hinauszutragen, damit sie nicht nass wurde. Es war ein seltsamer Gedanke, dass sie vielleicht nie mehr zurückkommen würden, dass sie die West 88 th Street und vielleicht auch ganz New York nie wiedersehen würden.
Er schlug vor, dass jeder noch ein stilles Gebet für sich sprach, bevor sie endgültig aufbrachen, und Bri schaute ihn dankbar an. Als dann alle so weit waren, nahm er das Seil auf. Er zog den Schlitten mit Bri und den Rucksäcken darauf, während Julie zu Fuß nebenher lief.
Es war von Anfang an hart, weil sie beide durch den tiefen Schnee stapfen mussten, und schon bald spürte er seine Arme und seinen Rücken. Julie bot an, zumindest die Rucksäcke zu übernehmen, und trug schließlich einen auf dem Rücken und einen vor der Brust. Das war zwar keine große Erleichterung, aber Alex war Julie trotzdem dankbar.
Bis zur 70 th Street brauchten sie schon eine ganze Stunde, und Bri wurde das Atmen immer schwerer. Auf Höhe der 68 th Street fiel Julie hin und Alex musste ihr wieder hochhelfen, was seine Kräfte zu diesem Zeitpunkt fast schon überstieg. Zudem bekam sie dabei Schnee in die Stiefel, so dass ihre Füße nass wurden. Alex wusste nicht, ob er sie schütteln, schlagen oder in den Arm nehmen sollte.
»Na, komm«, sagte er aufmunternd, mindestens ebenso an sich selbst gerichtet wie an seine beiden Schwestern. »Es ist nicht mehr weit. Das schaffen wir.«
Aber an der 62 nd Street war er sich dann nicht mehr so sicher. Sie hatten noch nicht einmal den Columbus Circle erreicht, und von dort aus waren es immer noch gute anderthalb Kilometer. Würde ihre Kraft dafür reichen? Bri hörte gar nicht mehr auf zu husten und Julies Schritte wurden immer schwerer.
Sei nicht albern, ermahnte er sich. In zwei Stunden, vielleicht sogar weniger, wenn alles gut ging, würden sie schon im Busbahnhof stehen und die letzten Vorbereitungen für ihre Fahrt ins Glück treffen. Bis dahin mussten sie einfach durchhalten.
Der Wind frischte auf und Alex schmeckte Salz auf der Zunge, vermischt mit dem gewohnten Aschestaub. Seine Augen brannten und tränten, bis er kaum noch einen Meter weit sehen konnte. Er dachte an Harveys Angebot, ihn und Bri direkt von ihrer Haustür an einen sicheren Ort zu bringen, im Tausch gegen Julie. Und jetzt würde Bri womöglich auf diesem Schlitten sterben. Hatte er wieder die falsche Entscheidung getroffen? Wie konnte er so sicher sein, dass Julie bei ihm besser aufgehoben war als bei irgendeinem Fremden?
Der Wind klang auf einmal wie spöttisches Gelächter: Papá nannte ihn einen debilucho , Carlos eine Memme. Die beiden waren richtige Männer. Sie hätten es nie so weit kommen lassen.
Julie stürzte erneut und kam nicht allein wieder hoch. Der Rucksack vor ihrer Brust war einfach zu schwer. Alex nahm ihn ihr ab und legte ihn auf den Schlitten.
»Ich kann ja dafür den anderen nehmen, der ist etwas leichter«, sagte Julie. »Hilf mir mal beim Aufsetzen.«
Alex schüttelte den Kopf. »Das geht schon«, sagte er. »Komm, wir müssen weiter.«
Aber ab der 57 th Street wurde es noch schlimmer, denn hier fing die Zivilisation wieder an. Auf der 8 th Avenue war der Schnee gepflügt worden und die Gehwege waren geräumt, was bedeutete, dass sie dort den Schlitten nicht mehr benutzen konnten.
Ein Laster fuhr vorbei, und der Fahrer hupte wütend und warf ihnen Flüche an den Kopf.
»Wir müssen auf dem Fußweg weitergehen«, sagte Alex.
»Da können wir aber den Schlitten nicht ziehen«, sagte Julie.
Alex nickte. »Wir müssen uns was einfallen lassen«, sagte er, während er den Schlitten zur Bordsteinkante zog.
Er nahm Bri hoch und legte sie sich über die Schulter, wie ein Feuerwehrmann. Julie hob den Schlitten auf den Gehweg und zog ihn hinter sich her, während Alex versuchte, mit Bri auf der Schulter das Gleichgewicht zu halten und die vereisten Stellen auf dem Fußweg zu umgehen.
Zweimal rutschte er aus. Beim ersten Mal gelang es Julie, seinen Sturz ein wenig abzufangen, so dass sie alle drei in einem Knäuel auf dem Boden landeten. Hätte es auch nur einen Rest von Humor auf der Welt gegeben, wäre das lustig gewesen.
Beim zweiten Mal konnte Julie den Sturz nicht verhindern, und Alex knallte mit der Nase auf den Gehweg, so heftig, dass er schon befürchtete, sie sei gebrochen. Bri bekam einen riesigen Schreck und rang
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