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Die Verlorenen von New York

Die Verlorenen von New York

Titel: Die Verlorenen von New York Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susan Beth Pfeffer
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dem Weg zum Busbahnhof die Arme frei habe, um den Schlitten zu ziehen.«
    Julie blieb unvermittelt stehen. »Ich glaube nicht, dass wir den Schlitten noch brauchen werden«, flüsterte sie, als wäre irgendjemand in der Nähe, der sie hören könnte.
    »Wir brauchen ihn für Bri«, sagte Alex.
    »Sie hat nur noch eine Patrone«, sagte Julie leise. »Die benutzt sie jetzt schon seit mehreren Wochen. Manchmal hustet sie nachts, ohne den Inhalator zu benutzen, und dann denke ich manchmal, sie stirbt mir gleich hier im Schlafsack.«
    »Bri wird nicht sterben«, sagte Alex. »In weniger als zwei Wochen brechen wir mit dem Konvoi auf. Wir brauchen einfach nur genug zu essen, um bis dahin zu überleben.«
    »Du hörst dich schon genauso an wie sie«, sagte Julie. »Wenn sie ständig behauptet, Mamá und Papá wären noch am Leben.«
    »Das ist was anderes«, sagte Alex. »Mamá und Papá können wir nicht mehr helfen. Aber wir können trotzdem dafür sorgen, dass wir am Leben bleiben. Einschließlich Bri.«
    »Bringt es was, wenn ich dir meinen Mantel gebe?«, fragte Julie. »Der ist mir sowieso viel zu groß.«
    »Behalt ihn lieber«, sagte Alex. »Vielleicht müssen wir ihn nächste Woche zu Harvey bringen.«
    Schweigend liefen sie weiter, bis sie vor ihrem Haus ankamen. »Ich habe keine Angst zu sterben«, sagte Julie. »Inzwischen kenne ich wohl schon mehr Leute im Himmel als hier auf der Erde. Mamá und Papá und Kevin. Jede Menge Leute. Ich will nur nicht als Letzte übrig bleiben. Das wäre für mich am schlimmsten: wenn ihr beide sterben würdet, und nur ich wäre noch übrig.«
    »Das lasse ich nicht zu«, sagte Alex.
    Julie starrte ihn an, mit dieser seltsamen Mischung aus Naivität und Frühreife. »Versprochen?«, fragte sie.
    »Versprochen«, antwortete er. Er ärgerte sich, die zwölf Stockwerke wieder hinaufsteigen zu müssen, aber er hatte die Aspirintabletten nicht eingesteckt und musste sie jetzt erst einmal holen. Das Treppensteigen kostete sie fast doppelt so viel Zeit wie noch in der vergangenen Woche. Er hatte keine Ahnung, wie er es am 26 . schaffen sollte, Bri die Treppe hinunter bis zum Schlitten zu tragen.
    Bri schlief noch, als sie die Wohnung betraten, und ihre Atmung klang angestrengt. Noch in derselben Nacht, dachte Alex, in der ihr Inhalator endgültig leer war, würde er den Mut aufbringen, ihnen die Schlaftabletten zu geben. Dann würden sie in Frieden sterben, und mehr konnte man wohl nicht hoffen.
    Er fand die Packung Aspirin und verabschiedete sich von Julie. »Soll ich mitkommen?«, fragte sie.
    »Nein, bleib hier«, sagte Alex. Er wollte nicht riskieren, dass sie danebenstand, wenn Harvey sein Angebot für sie erneuerte. Er ließ sich Zeit beim Hinuntergehen und machte sich gemächlich auf den Weg zu Harveys Laden. Er wusste, dass in dieser Woche vielleicht gar keine Lebensmittel geliefert worden waren und dass Harvey vielleicht gar nichts einzutauschen hatte. Und genauso wusste er, dass Harvey seinen Mantel und die Aspirintabletten womöglich vollkommen wertlos finden würde. Er wusste eine Menge Dinge, die er eigentlich gar nicht wissen wollte.
    Am Laden angekommen, wurde er jedoch mit der einzigen Tatsache konfrontiert, mit der er nicht gerechnet hatte: Die Tür war verschlossen.
    Alex hämmerte dagegen. Vielleicht war Harvey auf dem Klo. Aber es war kein Laut zu hören. Hatte er etwa die Stadt verlassen? War ihm trotz der Quarantäne die Flucht gelungen?
    Bei diesem Gedanken wurde Alex fuchsteufelswild. Harvey hätte die Lebensmittel zwar auf jeden Fall mitgenommen, wäre er tatsächlich fortgegangen, aber Alex war viel zu wütend, um noch klar denken zu können. Er zog einen Schuh aus und schlug damit das Schaufenster ein. Einige Scherben fielen in den Schnee.
    Alex schlüpfte wieder in den Schuh, griff durch das Loch und entriegelte die Tür. Harvey lag auf dem Boden, den rechten Arm ausgestreckt, als wollte er nach etwas greifen.
    Alex zog einen Handschuh aus, kniete sich hin und fühlte ihm den Puls. Er konnte keinen mehr finden, aber sein Körper war noch warm, und so legte ihm Alex das Ohr an den Mund, um zu hören, ob er noch atmete. Auch wenn er nicht gewusst hätte, was er tun sollte, wenn Harvey tatsächlich noch am Leben war.
    Aber die Frage stellte sich nicht mehr. Harvey war tot. Wahrscheinlich noch keine zehn Minuten. Der Letzte einer ausgestorbenen Art.
    Alex wusste, dass er eigentlich für Harveys Seele beten sollte, aber das einzige Gebet, das ihm über die Lippen

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