Die Verlorenen von New York
ich eine Last für euch bin.« Sie fing an zu weinen. »Ich hätte nie nach Hause kommen dürfen. Ich hätte im Kloster bleiben und dort sterben sollen.«
»Idiota« , sagte Alex und küsste sie auf die Stirn. »Für mich musst du aber am Leben sein und für Julie auch. Und jetzt spiel hier nicht die dramática wie Tante Lorraine. Denk lieber daran, wie schön es sein wird, wieder Heizung und Strom zu haben und drei Mahlzeiten am Tag.«
Bri nahm einen weiteren Zug aus ihrem Inhalator. »Meinst du, mir wird es dort besser gehen?«
»Ich bete darum«, sagte Alex.
Bri holte tief Luft. »Es tut mir so leid«, sagte sie. »Ich mache euch die Sache nicht gerade leichter. Aber ich schaffe es bestimmt, bis Port Authority zu laufen.«
»Das musst du gar nicht«, erklärte Alex. »Du solltest den Schlitten sehen, den ich für dich besorgt habe. Na ja, morgen wirst du ihn ja sehen. Auf dem kannst du die ganze Strecke in aller Bequemlichkeit zurücklegen. Und von dort bringt uns dann ein Bus zu unserem neuen Zuhause. Das kann ein paar Tage dauern, aber der Bus ist geheizt. Stell dir das vor! Geheizt!« Er lachte. »Ab morgen werden wir leben wie die Könige.«
»Julie ist bestimmt begeistert«, sagte Bri.
»Sie wird es sein«, sagte Alex. »Sie weiß es nämlich noch nicht. Du bist die Ältere, deshalb habe ich es dir zuerst erzählt.«
»Kann ich dabei sein, wenn du’s ihr sagst?«, fragte Bri. »Ich möchte so gern ihr Gesicht sehen, wenn sie das hört.«
Alex nickte. »Einverstanden«, sagte er. »Aber jetzt leg dich erst mal wieder hin. Morgen ist für uns alle ein großer Tag, und du sollst so fit und ausgeruht sein wie möglich.«
»Ich habe meinen Rosenkranz hier im Schlafsack«, sagte Bri. »Ich werde jetzt beten. Ich werde Gott danken, dass es dich gibt und Mr Flynn und alle anderen, die so gut zu uns waren.«
SIEBZEHN
Montag, 12 . Dezember
Nur noch fünf Blocks, dachte Alex. Wenn sie es bis hierher geschafft hatten, waren fünf Blocks doch ein Kinderspiel.
Der Marsch nach downtown war sehr viel schwieriger geworden, als er gedacht hatte, obwohl alles so gut angefangen hatte. Er war stolz darauf gewesen, wie er die Sache eingefädelt hatte – angefangen bei dem Gespräch mit Bri, in dem er ihr die Nachricht eröffnet hatte, dann dem mit Julie (die ihre Begeisterung auf einen gedämpften Jubelschrei beschränkt hatte, wofür er sehr dankbar gewesen war), bis hin zu dem Zettel, den er unter der Tür der St. Vincent de Paul Academy durchgeschoben hatte, damit Pater Mulrooney und Schwester Rita sich keine Sorgen machten. Danach war er in Apartment 12 B zurückgekehrt und hatte den Mädchen beim Packen geholfen. Anschließend hatte er mit Julie zusammen die Wohnung aufgeräumt und geputzt, bis sie so tipptopp war, wie man es unter diesen Umständen erwarten konnte. Sie hatten gemeinsam zu Abend gegessen und nur so viel übrig gelassen, dass es für ein Frühstück am nächsten Morgen reichte.
Er hatte schlecht geschlafen, aber das war die Aufregung, und im Bus hätte er sicher reichlich Zeit, den Schlaf nachzuholen. Um halb fünf gab er den Versuch schließlich auf, erledigte die letzten Arbeiten und weckte dann seine Schwestern. Es war ganz ungewohnt und herrlich, ein Frühstück zu bekommen; er konnte sich kaum noch erinnern, wann er zuletzt einen Tag ohne Hunger begonnen hatte.
Er vergewisserte sich, dass Bri und Julie alles eingepackt hatten, was sie mitnehmen wollten, ein bisschen Wechselwäsche, den einen oder anderen persönlichen Gegenstand, nichts Schweres und vor allem nichts, was viel Platz wegnahm, weil sie jeder nur einen Rucksack mitnehmen durften. Sie hatten mehrere Schichten Kleidung übereinander gezogen, sogar noch mehr als sonst, zum einen, weil sie dann weniger einpacken mussten, und zum anderen, weil sie mehrere Stunden lang draußen unterwegs sein würden.
Schließlich war alles für den Aufbruch bereit. Die zwölf Stockwerke dauerten lang, weil Bri auf jeder Etage erst einmal verschnaufen musste. Unter diesen Bedingungen hätte sie nicht mehr lange überlebt, dachte Alex. Er wusste, dass die Patronen für ihren Inhalator fast aufgebraucht waren, und er hatte keine Ahnung, wo sie neue herbekommen sollten. Aber in wenigen Tagen wären sie an einem sicheren Ort, dann wäre das alles kein Problem mehr.
Alex ließ Julie und Bri in der Eingangshalle warten, während er die letzten Stufen zu ihrer alten Wohnung hinunterging. Alles war noch so, wie er es zurückgelassen hatte. Er trug
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