Die Verlorenen von New York
hatte er noch gar nichts notiert. Genau genommen wollte er auch gar nichts glauben. Er wollte aufwachen und hören, wie Papá ihn verwünschte, wie Mamá ihn verteidigte und wie Bri und Julie sich darum zankten, wer von ihnen das Badezimmer am längsten blockierte. Er wollte, dass der Mond wieder dort stand, wo er hingehörte, und dass pessimistische Wissenschaftler sich vom Acker machten. Er wollte ein Vollstipendium für Georgetown und jeden Sommer ein Praktikum bei einem US -Senator. Er wollte der erste amerikanische Präsident puerto-ricanischer Abstammung werden.
Aber mehr als alles andere wollte er wissen, ob seine Eltern in Sicherheit waren. Er weigerte sich, statt »in Sicherheit« »noch am Leben« zu denken. Sie mussten noch am Leben sein. Sie waren nur gerade unterwegs, das war alles. Papá war zu Nanas Beerdigung gereist, und Mamá war ins Krankenhaus gefahren, weil sie gebraucht wurde. Für eine gewisse Zeit nicht da, genau wie Carlos. Beide würden sich Sorgen um Alex und die Mädchen machen. Und beide würden alles tun, um so bald wie möglich nach Hause zu kommen.
Wenn keine U-Bahnen fuhren, musste Mamá den Bus nach Manhattan nehmen. Und bei diesem Verkehr konnte das Stunden dauern. Trotzdem wäre sie bestimmt nicht erfreut, wenn hier überall Tüten voller Lebensmittel herumstanden. Alex nahm sich vor, Bri und Julie zu bitten, die Sachen wegzuräumen. Sie kannten sich in der Küche besser aus.
Für Papá wäre die Rückkehr um einiges schwieriger, aber auch nicht unmöglich. Irgendwann musste es ja wieder Flüge geben. Zur Not konnte er auch vom Flughafen aus mit dem Bus bis Port Authority fahren und dann die letzten Kilometer laufen.
Alex sah auf die Uhr. Wenn er sich rasch anzog, würde er es gerade noch zur Acht-Uhr-Messe in St. Margaret’s schaffen. Er überlegte, ob er Bri und Julie wecken und mitnehmen sollte, beschloss dann aber, dass das zu hektisch werden würde. Am Sonntag würden sie sowieso alle zusammen zur Kirche gehen – vielleicht sogar mit Mamá – und für die sichere Heimkehr ihres Vaters beten. Heute Morgen ging er lieber allein.
Er legte seinen Schwestern einen Zettel hin, auch wenn sie wahrscheinlich noch schlafen würden, wenn er zurückkam, und schlug den Weg zur Columbus Avenue ein, überquerte mit einem Stoßgebet den Broadway und lief die zwei Blocks zur Kirche hinauf. Die Sonne strahlte vom Himmel, aber der Mond war trotzdem gut zu sehen, wie das tagsüber manchmal vorkam. Nur war er zu groß. Viel zu groß.
Die Kirche war geöffnet, wie Alex erleichtert feststellte, und überraschend gut gefüllt. Er sah viel mehr Männer als sonst, und nicht nur alte. Den meisten Leuten stand die Angst ins Gesicht geschrieben und einige weinten. Bloß gut, dass er seine Schwestern zu Hause gelassen hatte.
Er hatte eine ganz normale Messe erwartet, aber stattdessen sagte Pater Franco, er wolle einige Ankündigungen machen. Alex sah, dass er sie von einem Zettel ablas. Das tröstete ihn. Solange Listen erstellt wurden, herrschte noch Ordnung auf der Welt.
»Das Bürgermeisteramt und das Büro der Erzdiözese stehen in ständigem Kontakt«, hob Pater Franco an. »Alle Informationen werden über die Diözese an die Gemeindepfarrer weitergeleitet, die ihrerseits die Kirchgänger informieren.« Er blickte kurz auf und lächelte. »Ein ganz neuer Grund, auch wochentags zur Messe zu gehen.«
Einige lachten nervös.
»Also«, sagte Pater Franco. »Die U-Bahnen fahren noch nicht wieder und die Busse nur sehr eingeschränkt. Solange Ihr Beruf nicht unmittelbar dem Überleben der Gemeinschaft dient, werden Sie gebeten, zu Hause zu bleiben und sich nur zu Fuß fortzubewegen. Fahrten mit dem Auto sind nur im äußersten Notfall gestattet. Außerdem herrscht zwischen acht Uhr abends und sechs Uhr morgens im gesamten Stadtgebiet eine Ausgangssperre.« Er sah wieder auf. »Diese Maßnahmen mögen Ihnen drakonisch erscheinen«, sagte er, »aber Sie werden verstehen, dass wir schwierige Zeiten durchleben. Vermutlich möchten Sie auch wissen, wann es wieder Strom gibt. Die städtischen Stromversorger hoffen, dass der Großteil von Manhattan bis Montag wieder am Netz sein wird.«
»Das ganze Wochenende kein Strom?«, rief ein Mann aus den hinteren Reihen.
»Die Leute tun, was sie können, und das unter extrem schwierigen Bedingungen«, sagte Pater Franco. »Das ganze Land ist von diesen Ausfällen betroffen.«
»Und was ist mit dem Telefon?«, fragte eine Frau.
Pater Franco schaute erneut
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