Die Verlorenen von New York
auf seinen Zettel. »Dazu wird hier kein Zeitrahmen genannt«, sagte er. »Auch das ist ein landesweites Problem. Viele Kommunikationssatelliten sind abgestürzt. Mal sehen, was haben wir noch? Die Flughäfen bleiben bis auf weiteres geschlossen. Und wann die staatlichen und konfessionellen Schulen wieder aufmachen, ist ebenfalls noch nicht entschieden.« Wieder hob er den Blick. »Alle Informationen aus der Erzdiözese werden am Schwarzen Brett ausgehängt, also schauen Sie dort am besten täglich nach. Sie können sich bestimmt vorstellen, dass unsere Kirchen derzeit über wenig Personal verfügen. Trotzdem möchte die Erzdiözese, dass sie von sechs Uhr morgens bis acht Uhr abends geöffnet sind. Vielleicht wird nicht immer ein Priester zur Verfügung stehen, aber Christus, unser Erlöser, wird Ihre Gebete hören.«
Alex hatte gehofft, die vertraute Liturgie würde ihm Trost spenden, doch stattdessen wirbelte ihm nun all das durch den Kopf, was Pater Franco gesagt hatte. Nicht, weil es ihn überrascht hätte. Das meiste hatte er schon gewusst, das mit dem Telefon, dem Strom und den U-Bahnen. Aber ihm war nicht klar gewesen, dass auch alle anderen es wussten. Irgendwie hatte er gedacht, die Probleme beschränkten sich auf die West 88 th Street. Aber nicht nur sein Vater kam nicht aus Puerto Rico heraus; überall auf der Welt waren Menschen von der Schließung der Flughäfen betroffen. Und Mamá war auch nicht die Einzige, die an ihrem Arbeitsplatz festsaß, ohne eine Möglichkeit, mit ihrer Familie Kontakt aufzunehmen.
Alex betete zu Christus, er möge ihm die Weisheit verleihen, zu erkennen, was von ihm erwartet wurde, und die Kraft, es auch zu tun. Er betete für die Seelen der Toten und dafür, dass die Vermissten gesund heimkehren würden. Er dankte Gott für die Kirche, die sein einziger Halt war.
Als er nach Hause kam, waren seine Schwestern schon auf und lungerten in der Wohnung herum.
»Da bist du ja endlich wieder!«, rief Bri, als wäre er zwei Wochen unterwegs gewesen und nicht zwei Stunden. »Wo warst du denn?«
»In der Kirche«, sagte er. »Ich habe euch doch einen Zettel hingelegt. Habt ihr den nicht gefunden?«
»Doch«, räumte Bri ein. »Aber wir dachten, du wärst vielleicht noch woanders hingegangen.«
»Bin ich aber nicht«, sagte Alex. »Und ich habe Hunger. Habt ihr schon gefrühstückt?«
»Nein«, sagte Bri. »Wir hatten keinen Appetit, solange wir nicht wussten, was mit dir war.«
»Mit mir war gar nichts«, sagte Alex und versuchte, nicht allzu gereizt zu klingen. »Wie wär’s, wenn du jetzt mal Frühstück machst, Bri? Danach geht’s uns bestimmt wieder besser.«
»Wieso sollte es uns danach besser gehen?«, fragte Julie. »Dann wissen wir immer noch nicht, wo Mamá und Papá sind oder was genau passiert ist oder wann alles wieder normal wird.«
»Aber es gibt andere Dinge, über die du dich freuen könntest«, sagte Alex. »Zum Beispiel, dass du jetzt nicht in der Schule sitzt und deine Englischarbeit schreibst, die du garantiert verhauen würdest. Dass wir genug zu essen im Haus haben und dass wir uns haben. Dass die Sonne scheint und dass du ausschlafen konntest. Wie du siehst, gäbe es eine Menge, worüber du dich freuen könntest, wenn du nur wolltest.«
»Riechst du mal an der Milch?«, fragte Bri aus der Küche. »Ist die noch gut?«
Alex ging hin und schnupperte an der Flasche. »Ich glaub schon«, sagte er. »Dann essen wir jetzt Müsli mit Milch, solange es noch welche gibt.«
»Was meinst du damit?«, fragte Julie. »Warum sollte es keine mehr geben?«
»Pater Franco hat gesagt, dass noch nicht sicher ist, wann die Stromversorgung wieder funktioniert«, erwiderte Alex. »Das meinte ich damit. Vielleicht am Montag. Vorher hat es wohl wenig Sinn, frische Milch zu kaufen.«
Bri füllte Müsli in drei Schalen und goss ein wenig Milch dazu. Sie nahm einen Löffel voll und lächelte. »Ja, die ist noch gut«, sagte sie. Sie schnitt eine Banane in Stücke und verteilte sie.
»Und was hat Pater Franco sonst noch gesagt?«, fragte Julie.
»Dass die Flughäfen vorerst geschlossen bleiben und dass es noch dauern kann, bis das Telefon wieder funktioniert«, sagte Alex. »Deshalb haben wir auch noch nichts von Mamá gehört. Ich habe heute Morgen versucht, im Krankenhaus anzurufen, aber die Leitung war tot. Es war schon Glückssache, dass Papá und Carlos gestern noch durchgekommen sind. Und wann die Schule wieder anfängt, ist auch noch nicht klar.«
»Das müsste
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