Die Verlorenen von New York
»Dafür bringt Papá dich garantiert um«, meinte Julie.
»Ich verwahr sie doch nur für ihn«, sagte Alex. »Du kannst sie zählen. Neun Dosen.«
»Was meinst du, wann Papá zurückkommt?«, fragte Briana.
»Frühestens Ende nächster Woche«, erwiderte Alex. »Erst müssen sie ja die Flughäfen wieder in Betrieb nehmen, und das kann eine Weile dauern.«
»Und Mamá? Meinst du, sie kommt heute Abend?«, fragte Bri weiter.
»Die sitzt doch in Queens fest«, erwiderte Alex. »Pater Franco hat gesagt, dass keine U-Bahnen fahren.«
»Ist doch irgendwie lustig, dass Mamá in Queens festsitzt und Papá in Puerto Rico«, sagte Bri. »Als wäre beides gleich weit weg.«
»Was ist daran lustig?«, fragte Julie. »Wir wissen nicht mal, wie’s ihnen geht.«
»Unsere Madre Santísima wacht über sie«, sagte Bri. »Stimmt’s, Alex?«
»Klar tut sie das«, sagte Alex und betete im Stillen, die Arme der heiligen Muttergottes mochten groß genug sein, um die Millionen von verlorenen Seelen aufzunehmen, die um ihre Gnade flehten.
Samstag, 21 . Mai
Alex wusste, dass seine Schwestern vorhatten, am Sonntag zur Messe zu gehen, aber er wusste nicht, ob er zulassen wollte, dass sie Pater Francos mögliche Ankündigungen hörten. Dass auch seine eigene Angst von Stunde zu Stunde wuchs, machte die Sache nicht besser. Immer wieder redete er sich ein, es sei ganz bestimmt Papá gewesen, der angerufen hatte, Bri könne sich nicht geirrt haben und es sei nur eine Frage der Zeit, bis er wieder nach Hause kam. Aber er konnte das Bild einfach nicht abschütteln, das Bild einer riesigen Flutwelle, die das winzige Küstenstädtchen überrollte und seinen schreienden Vater in den sicheren Tod riss.
Und dann Mamá. Je länger sie nichts von ihr hörten, desto größer wurde seine Angst, dass es für immer so bleiben würde. War sie in der U-Bahn ertrunken, wie Tausende andere auch?
Andererseits waren erst drei Tage vergangen – und was waren drei Tage, wenn die Welt im Chaos versank und Kommunikation unmöglich war?
Sie hatten reichlich Vorräte. Sie hatten ein Zuhause. Sie hatten die Kirche. Sie hatten einander. Sie hatten Onkel Jimmy und Tante Lorraine. Und zur Not hatten sie auch noch Carlos. Sie waren besser dran als Millionen anderer Menschen. Und es war ja auch nicht so, als hätten sie tatsächlich keine Eltern mehr. Sie wussten bloß nicht, wo die gerade waren.
Bestimmt würde alles wieder gut. Das musste es einfach.
Aber bevor er seine Schwestern zur Messe mitnahm, wollte er doch so gut wie möglich informiert sein, zumindest, was ihre unmittelbare Nachbarschaft anging. Er beschloss, einen kleinen Rundgang zu machen.
»Wo gehst du hin?«, fragte Bri mit jenem Anflug von Panik in der Stimme, an den er sich fast schon gewöhnt hatte.
»Nur eine Runde um den Block«, sagte Alex.
»Können wir mitkommen?«, fragte Julie.
»Nein«, sagte Alex.
»Wieso nicht?«, fragte Julie herausfordernd. »Mir ist langweilig. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Warum können wir nicht zusammen rausgehen?«
Weil ich euch beschützen muss! , hätte Alex am liebsten gebrüllt, aber damit hätte er Bri nur Angst gemacht.
»Ihr könnt morgen mit zur Kirche«, sagte er stattdessen. »Habt ihr seit Mittwoch eigentlich schon mal Hausaufgaben gemacht?«
Sie schüttelten die Köpfe.
»Dann seht zu, dass ihr sie fertig habt, wenn ich zurück bin«, sagte Alex, genau wie Mamá es getan hätte. »Und wisst ihr was? Sollte ich irgendetwas finden, ein Geschäft oder ein Café, das geöffnet hat, dann gehen wir später zusammen hin, okay?«
»Wann kommst du zurück?«, fragte Bri.
»Bald«, sagte Alex. »Versprochen. Und jetzt macht eure Hausaufgaben.«
»Komm, Julie«, sagte Bri. »Ich helf dir bei Mathe.«
»Ich brauch keine Hilfe«, grummelte Julie, doch sie folgte ihrer großen Schwester aus dem Zimmer. Alex atmete auf. Er konnte verstehen, dass seine Schwestern endlich mal wieder rauswollten. Aber drinnen war es einfach sicherer.
Eigentlich hätte er als Allererstes am Schwarzen Brett von St. Margaret’s nachsehen sollen, ob es etwas Neues gab, und sei es auch nur, wann die Schule wieder anfing. Aber statt nach Osten, in Richtung Kirche, wandte er sich zunächst nach Westen.
Während er den Riverside Drive hinunterging, sagte Alex sich immer wieder vor, dass mit dem Hudson bestimmt alles in Ordnung war, aber als er dann endlich am Ufer stand, war er doch erleichtert. Dass die Strömung ziemlich stark war, konnte auch von den
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