Die Verlorenen von New York
legte noch ein Paar Sneaker dazu, bei denen er sich halbwegs sicher war, dass sie Bri gehörten. Fehlten noch Nachthemden und la ropa íntima . Bei dem Gedanken, in Bris Wäsche herumwühlen zu müssen, verzog Alex das Gesicht, aber es war nun mal nicht zu ändern. Er zog die oberste Kommodenschublade auf und warf hastig, ohne allzu genau hinzusehen, einen Packen Unterwäsche in die Tasche. Die Nachthemden waren etwas weniger peinlich, und als ihm einfiel, dass noch Socken, Hausschuhe und Bademantel fehlten, war er geradezu erleichtert. Ihren Bademantel und ihre Hausschuhe kannte er, das war also kein Problem. Und bei den Socken musste er nur genug für Julie übrig lassen.
Als Nächstes waren die Waschsachen dran. Zahncreme und Seife gab es bestimmt bei den Schwestern, aber eine eigene Zahnbürste würde sie brauchen. Das Problem war nur, dass Alex nicht die geringste Ahnung hatte, welche Zahnbürste Bri gehörte. Er wusste nur, welche seine war, und da ihm nichts Besseres einfiel, warf er einfach alle übrigen in die Reisetasche. Für Julie würde sich schon irgendwo eine neue auftreiben lassen und auch für Mamá und Papá, falls sie zurückkamen. Für alles andere, was ein Mädchen vielleicht noch brauchte, mussten dann eben die Schwestern sorgen.
Er fand Bris Tagebuch und steckte es in ein Seitenfach der Reisetasche. Dann ließ er den Blick durchs Zimmer schweifen. Gab es sonst noch etwas, das ihr wichtig war und das sie vielleicht dabeihaben wollte? Der Großteil der Bilder, die sie mit Tesa an die Wand geklebt hatte, waren Poster von irgendwelchen Fernsehstars, gut aussehenden Typen, die im Kloster, da war sich Alex ziemlich sicher, bestimmt nicht gern gesehen wären, mochten die Schwestern auch noch so liberal sein. Aber gegen eine Postkarte mit van Goghs Sternennacht , die Bri einmal gekauft hatte, weil das Bild sie an den Nachthimmel auf dem Land erinnerte, war wohl kaum etwas einzuwenden. Er löste sie von der Wand und legte sie zum Tagebuch.
Was noch? Ein Familienfoto, dachte er, aber das stand im Zimmer seiner Eltern. Ein warmer Pullover. Er fand einen im Schrank und warf ihn dazu. Jacke? Mantel? Wenn Bri über den Sommer hinaus im Kloster bleiben musste, würde sie einen Mantel brauchen. Bei dem Gedanken, dass sie das Kloster vielleicht nie mehr verlassen würde, dass er sie womöglich für immer von zu Hause fortschickte, schnürte sich Alex’ Kehle zusammen. Er sagte sich, dass sie dort zumindest sicher und gut versorgt sein würde, was er hier in New York niemals garantieren könnte. Für Bri war es das Beste, wenn sie fortging. Außerdem kannte er dann ihren Aufenthaltsort. Anders als den von Mamá und Papá. Es war eher so wie bei Carlos, nur noch besser, weil Alex sich notfalls mit ihr in Verbindung setzen konnte. Außerdem wäre sie auf einer Farm, zusammen mit Mädchen in ihrem Alter und in der Obhut der Schwestern. Etwas Besseres konnte ihr gar nicht passieren.
Er rollte Bris Regenjacke zusammen und stopfte sie in die Tasche. Für einen Wintermantel war kein Platz mehr. Er hätte ihn natürlich für sie tragen können, aber er brachte es nicht über sich. Falls Bri tatsächlich bis zum Winter bleiben musste, würde er schon eine Möglichkeit finden, ihr den Mantel zukommen zu lassen. Außerdem würden die Schwestern bestimmt ein paar Mäntel für die Mädchen bereithalten, für alle Fälle.
Ihr Rosenkranz! Der musste auf jeden Fall mit, auch wenn die Schwestern bestimmt welche übrig hatten. Alex fand ihn auf der Kommode und legte ihn dazu. Dann ging er ins Schlafzimmer seiner Eltern und holte das gerahmte Familienfoto, das bei Mamá auf dem Nachttisch stand. Alles sechs waren sie darauf; Onkel Jimmy hatte es zu Weihnachten aufgenommen, kurz bevor Carlos eingerückt war. Alex betrachtete es noch einmal, bevor er es in die Tasche legte. Wie jung sie da alle noch aussahen. War das wirklich erst ein halbes Jahr her?
Alex überlegte, was Bri vielleicht sonst noch brauchen oder vermissen würde, aber ihm fiel partout nichts mehr ein. Außerdem musste er mit Bri um eins an der St.-Benedict-Kirche sein, und zu Fuß war das eine ganz schöne Strecke. Er warf einen letzten Blick in das Zimmer der Mädchen und holte dann in seinem Zimmer die Dokumente unter der Matratze hervor.
Er lief zur Holy Angels High School und ging dort ins Sekretariat. Er wusste nicht, was er erwartet hatte, aber hier wirkte jedenfalls alles noch halbwegs normal, viel belebter als an seiner eigenen Schule.
»Ich bin Alex
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