Die Verlorenen von New York
Morales«, sagte er zu der Frau hinter dem Schreibtisch. »Der Bruder von Briana Morales. Sie hat einen Termin, zu dem ich sie abholen muss.«
Die Frau sah ihn ausdruckslos an. »Welche Klasse?«, fragte sie.
»Neunte«, erwiderte Alex.
»Raum 144 «, sagte die Frau. »Wenn sie dort nicht ist, dann vielleicht Raum 142 .«
Alex bedankte sich, lief den Flur entlang und fand Raum 144 . Bri saß am Tisch und schrieb gerade eifrig in ihr Heft.
Alex trat ein und ging auf die Lehrerin zu, die hinter ihrem Pult saß. »Ich bin der Bruder von Briana Morales«, sagte er. »Ich muss sie jetzt mitnehmen.«
Die Mädchen hatten alle den Kopf gehoben, und Bri starrte ihn entgeistert an. Die Lehrerin schien weniger überrascht zu sein. Nach der Anzahl der leeren Pulte im Raum zu schließen, war Bri nicht die Erste aus der Klasse, die in den letzten Wochen auf rätselhafte Weise verschwunden war.
»Kommt sie in absehbarer Zeit wieder zurück?«, fragte die Lehrerin.
»Nein«, flüsterte Alex.
»Sie wird uns fehlen«, sagte die Lehrerin. »Nun gut. Briana, pack deine Sachen zusammen, dein Bruder ist hier, um dich abzuholen.«
Alex dankte ihr und ging zu Bri. »Komm schon«, flüsterte er. »Wir müssen los.«
»Wegen Mamá?«, fragte Bri. »Oder Papá? Sind sie wieder da?«
»Nein«, sagte Alex. »Komm schon, Bri. Deine Bücher kannst du hierlassen.«
»Das versteh ich nicht«, sagte sie.
»Ich erklär’s dir später«, sagte er. »Komm einfach mit.«
Bri gehorchte, und gemeinsam verließen sie den Klassenraum und dann das Schulgebäude. »Wir haben einen langen Marsch vor uns«, sagte Alex. »Die ganze Madison Avenue rauf, bis zur 112 th Street. An der 96 th gehen wir quer durch den Park. Kannst du in den Schuhen gut laufen? Sonst ziehst besser deine Sneakers an.«
»Das geht schon«, sagte Bri. »Aber was ist denn nun los? Wohin gehen wir? Und wo ist Julie?«
»Die ist noch in der Schule«, sagte Alex. Er zögerte einen Moment. »Bri, es ist was ganz Tolles passiert, und das haben wir Pater Franco zu verdanken. Nördlich von New York gibt es ein Kloster, das einige junge Mädchen aufnimmt. Julie ist noch zu klein dafür, aber du nicht, und deshalb fährst du für eine Weile dorthin.«
»Um Nonne zu werden?«, fragte Bri. »Dafür bin ich doch noch viel zu jung.«
Alex zwang sich zu einem Lachen. »Nein, nicht um Nonne zu werden«, sagte er. »Zum Kloster gehört auch eine Farm, und die Schwestern haben beschlossen, ein paar gute katholische Mädchen bei sich aufzunehmen. Ihr sollt auf der Farm mithelfen, habt aber auch Schule. Und weil es eine Farm ist, gibt es dort immer genug zu essen. Es wird dir bestimmt gefallen. Die Ferien bei den Gastfamilien auf dem Land haben dir doch immer Spaß gemacht. So ähnlich wird das jetzt auch, nur noch besser, weil andere Mädchen in deinem Alter da sind und die Schwestern.«
Bri blieb wie angewurzelt stehen. »Ist das etwa ein Waisenhaus?«, fragte sie. »Schickst du mich in ein Waisenhaus?«
»Nein, natürlich nicht«, sagte Alex. »Komm schon, Bri, wir dürfen den Bus nicht verpassen. Wenn es ein Waisenhaus wäre, würde ich doch wohl eher Julie hinschicken, oder?«
»Keine Ahnung«, sagte Briana. »Schickst du sie denn auch irgendwohin? Oder nur mich?«
»Nur dich, weil du schon alt genug bist«, antwortete Alex. »Jetzt spiel hier nicht die Märtyrerin, Bri. Es ist ja nicht für immer, und ich an deiner Stelle wäre froh, wenn ich irgendwo hinkönnte, wo es drei Mahlzeiten am Tag gibt.«
»Könntest du doch«, sagte Bri. »Du brauchst dich nur bei den Marines zu melden.«
»Sehr witzig«, gab Alex zurück. »Und jetzt beeil dich. Wir müssen noch quer durch den ganzen Park.«
Briana schwieg eine Weile. Alex war froh, erst mal keine Fragen mehr beantworten zu müssen, und stellte erleichtert fest, dass im Central Park alles einigermaßen normal zu sein schien. Viele Leute waren mit dem Rad unterwegs, andere zu Fuß, um den sonnigen Junitag zu genießen. Autos waren keine zu sehen, aber der Central Park war ohnehin zu bestimmten Zeiten für den Autoverkehr gesperrt. Auch die Polizisten auf ihren Pferden verstärkten diesen Eindruck von Normalität, und das Klappern der Hufe wirkte beruhigend.
»Wenn ich es schrecklich finde, kann ich dann nach Hause kommen?«, fragte Briana.
»Du wirst es nicht schrecklich finden«, sagte Alex.
»Und wenn doch?«, beharrte Bri. »Wenn alle gemein zu mir sind? Wenn sie mich schlecht behandeln?«
»Wir können von Glück sagen,
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