Die Verlorenen von New York
riskieren, von seinen Schwestern erwischt zu werden. Da wartete er doch lieber bis zum nächsten Morgen, auch wenn er dann vielleicht zu spät zur Schule kam. Und das Nachsitzen wäre ihm sogar ganz recht. Je weniger Zeit er jetzt noch mit Bri verbrachte, desto besser, denn jedes Mal, wenn er sie sah, musste er daran denken, wie lange sie bald fort sein würde, und das brachte ihn völlig aus der Fassung.
Es ist für alle das Beste, sagte er sich immer wieder. Ihre Vorräte gingen zur Neige. Keine zwei Wochen würden sie mehr reichen, selbst wenn sie noch eine weitere Mahlzeit ausließen. Dabei aßen sie doch schon seit Tagen kein Frühstück mehr. Und was werden sollte, wenn demnächst die Ferien anfingen, darüber wollte Alex lieber gar nicht erst nachdenken. Wenn Bri ins Kloster ging, wäre zumindest sie gut versorgt, und das wenige, was hier noch übrig war, würde etwas länger reichen.
Alex biss die Zähne zusammen und machte sich daran, die Kommode seiner Eltern zu durchsuchen. Hoffentlich fand er eins von Bris Zeugnissen – ihre Zensuren würden die Schwestern sicher beeindrucken.
Bei dem Duft, der von der Kleidung seiner Eltern ausging, erfasste ihn eine Welle der Sehnsucht. Vor nicht einmal drei Wochen waren sie noch eine Familie gewesen. Und jetzt schickte er ausgerechnet Bri, die Sanftmütigste von ihnen, ins Exil. Ob er sie jemals wiedersehen würde?
Es ist für alle das Beste, ermahnte er sich noch einmal. Er musste jetzt stark sein, so wie Papá oder Carlos.
Keine Zeugnisse oder Geburtsurkunden in der Kommode. Er holte den Tritthocker aus der Küche, um an die Schuhkartons im obersten Fach des Wandschranks heranzukommen. Sie waren nicht beschriftet, aber schließlich fand er nicht nur sämtliche Zeugnisse, sondern auch Bris Geburtsurkunde. Er stellte die Kartons zurück und trug den Hocker wieder in die Küche, wo er in einer Schublade auch die Zahlungsbelege entdeckte. Dann versteckte er alle Papiere in seinem Zimmer unter der Matratze oben im Etagenbett. Er glaubte zwar nicht, dass die Mädchen in seinen Sachen herumstöbern würden, aber er ging lieber auf Nummer sicher.
Und erst jetzt, nachdem er alle notwendigen Dokumente beisammenhatte, wurde ihm so richtig klar, dass er Bri tatsächlich fortschicken würde.
Wer hatte ihn hier eigentlich zum Chef gemacht? Seine toten Eltern? Die Antwort darauf wollte er lieber gar nicht wissen, und so raffte er seine Schulbücher zusammen und beschloss, Pater Mulrooneys Zorn als willkommene Ablenkung zu betrachten.
Donnerstag, 9 . Juni
Alex hatte erst das Nachsitzen für die morgendliche Verspätung hinter sich gebracht, bevor er zu Pater Mulrooney gegangen war, um sich für den ganzen nächsten Tag abzumelden. Der Pater hatte ihm daraufhin einen zehnminütigen Vortrag über die Bedeutung schulischer Bildung in diesen schwierigen Zeiten gehalten, aber wenigstens hatte Alex jetzt nicht das Gefühl, einfach nur zu schwänzen.
Er wühlte in seinem Schrank, bis er Carlos’ alte Reisetasche fand. Sie roch immer noch ein bisschen nach dem Schweiß und dem Aftershave seines Bruders, aber das würde Bri sicher nicht stören.
Wie gern hätte er jetzt eine Liste gehabt, auf der alles stand, was Bri brauchen würde, aber er hatte keine bekommen. Fürs Packen war sonst immer Mamá zuständig gewesen. Sie hatte ihnen auch jedes Jahr ihre Tasche für die Sommerferien gepackt. Sie wusste eben, wie man Koffer packt, genauso wie sie wusste, wie man kocht und putzt und all die anderen Dinge erledigt, von denen es nie jemand für nötig befunden hatte, sie ihm beizubringen. Aber nun stand er hier, kramte in Bris persönlichsten Dingen herum und versuchte zu entscheiden, was sie mitnehmen musste und was die Schwestern zur Verfügung stellen würden.
Für die Arbeit auf der Farm würde sie auf jeden Fall praktische Kleidung brauchen. Der Sommer versprach heiß zu werden, also waren Shorts und T-Shirts sicher nicht verkehrt. Er packte noch zwei Jeans dazu und den viel zu großen Vincent-de-Paul-Pullover, den er ihr vorletztes Jahr zu Weihnachten geschenkt hatte. Nachts wurde es kalt auf dem Land.
Zum Abendessen würden sich die Mädchen vielleicht umziehen müssen, mit Sicherheit aber für den Kirchgang, deshalb legte Alex noch sorgfältig einen Rock und zwei Blusen in die Tasche, ebenso wie Bris bestes Kleid. Heute Morgen hatte sie natürlich ihre Schuluniform angezogen, damit hatte sie dann noch einen Rock und eine Bluse mehr. Schuhe hatte sie natürlich auch an. Alex
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